51. Der Alte
Patch hoffte, dass das Pferd ihn den ganzen Weg in den Norden tragen würde, aber es drehte gleich nach dem Schildkrötensee wieder um. Er schaffte es, ohne weitere Zwischenfälle zurück auf den Boden zu klettern. Die Sonne lag jetzt hinter den Bergen im Westen verborgen und es dauerte nicht mehr lange, bis es Nacht werden würde. Patch humpelte langsam von dem Betonweg weg, um Nahrung und eine Art von Unterschlupf zu finden.
Er fand und aß ein paar heruntergefallene Ginkonüsse. Sie schienen seinen Hunger nur noch größer werden zu lassen, aber er war zu schwach und zu müde, um sich ein ordentliches Abendessen zu suchen. Stattdessen taumelte er den Hügel bis zu einem nahe gelegenen Busch hinauf und kauerte sich im Dreck unter seinen dichten Ästen zusammen. Es war nicht wirklich ein Kobel, aber es würde für heute Nacht genügen müssen. Er hoffte, dass es seinem Bein morgen besser gehen würde. Es schmerzte kaum noch, es fühlte sich weit entfernt an, so als wäre es nicht länger ein Teil seines Körpers. Er hatte eine trübe Ahnung davon, dass dies sogar noch beunruhigender als die Schmerzen war.
Alles war falsch. Er hatte so hart gearbeitet und so vielen Gefahren getrotzt, um ins Mittlere Königreich zurückzukehren und nun steckte er in Schwierigkeiten, welche genauso ausweglos waren wie all jene, denen er auf seiner Reise nach Hause gegenübergestanden hatte. Der Ramble war ein See aus Blut und verstümmeltem Fleisch und aasfressenden Krähen und König Thorn war in den Norden geflohen. Er hatte Karmerruk im Stich gelassen, er hatte keine Ahnung mehr, wie er Zelina je wieder finden sollte, er war durch ein vergiftetes Bein, das den Anschein hatte, nie mehr zu heilen angeschlagen und er war so hungrig. Patch legte sich hin und schloss seine Augen, während er sich nicht mehr nur erschöpft, sondern tatsächlich leer wie ein ausgehöhlter Baum fühlte.
Dann, nur einen gefühlten kurzen Augenblick später, öffnete er sie wieder.
Einen Moment lang lag Patch ganz still da. Dann schnüffelte er vorsichtig in die Luft. Es lag ein seltsamer und elektrischer Geruch in der Luft; ein dichter, wilder Geruch, dem er schon zuvor begegnet war, dessen war sich Patch sicher, obwohl er nicht wusste wo und wann. Die bloße Anwesenheit dieses Geruches schien ein wenig seiner Stärke und Neugier zurückzubringen. Er kämpfte sich zurück auf die Beine, watschelte zum Rand des Busches und streckte seinen Kopf zwischen den Ästen heraus.
Genau in der Mitte einer Betonlichtung ragte eine riesige Steinspitze wie ein einzelner scharfer Zahn in den Himmel. Auf allen Seiten waren von Menschenhand seltsame und spinnenartige Formen hinein gemeißelt. Sie sah so alt wie die Erde selbst aus. Eine wirre Folge von Bildern überfluteten Patchs Verstand, als er die Spitze betrachtete; Bilder, die vor ihm in der Luft zu hängen schienen: eine goldäugige Kreatur mit einem Tigerkörper und dem Kopf eines Mannes; eine endlose Weite aus Sand, die mit tausenden menschlichen Skeletten übersäht war; einen Vollmond, der sich über einem gewaltigen dreieckigen Gebäude, welches von einem heulenden Rudel Hundedinger umgeben war, erhob. Einen Augenblick lang glaubte Patch, Stimmen in einer fauchenden, unverständlichen Sprache flüstern zu hören, und sein komplettes Fell sträubte sich.
Die Bilder wurden schwächer und lösten sich auf und Patch sah so etwas wie einen Hund unterhalb der Steinspitze stehen, welcher ihn mit einem misstrauischen Grinsen voll scharfer Zähne beobachtete. Einen Augenblick lang dachte er, es wäre Beeflover. Aber dieser Hund – falls es ein Hund war – war kleiner und seine Augen waren golden und er war schlank und drahtig muskulös.
„Patch, Sohn von Silver,“ sagte er mit leiser, vergnügter Stimme. „So treffen wir uns wieder.“
Patch zuckte vor Verblüffung zusammen. „Wer bist du? Woher kennst du meinen Namen?“
„Oh, ich weiß viele unnütze Dinge,“ sagte das Hundeding unbekümmert. „Nenn mich Coyote.“
Patch schauderte als er diesen Namen hörte, obwohl er nicht wusste, weshalb.
„Ist sie nicht wunderschön?“ fragte Coyote und deutete auf die riesige Steinspitze. „Die Geschichten, die sie erzählen könnte, falls Steine sprechen könnten. Sie kennt Erzählungen von antikem Blut und Opferungen, von ganzen Armeen, welche geschlachtet wurden, so dass ein Mann versuchen konnte, den Tod auszutricksen. Du solltest Zelina hierher bringen. Sie würde einige interessante Dinge sehen.“
„Du kennst Zelina? Wie geht es ihr? Wie kann ich sie finden?“
„Oh, keine Sorge, ihr geht es gut. Sie wird dich finden, wenn die Zeit gekommen ist. Aber ich habe dich nicht hierher gebracht um zu tratschen, Patch, Sohn von Silver.“
„Mich hierher gebracht?“
„Schau dir das an,“ sagte Coyote. Er zeigte auf die Schnellstraße, welche hinter der Spitze zu sehen war und auf der ein Automobil langsam wie ein Käfer an einem Blatt entlang krabbelte. „Sie sind so clever, diese Menschen. Stellen immer irgendeine neue Maschinen her. Seelenlose Metallstücke. Ich mag keine Maschinen, Patch, Sohn von Silver. Manchmal mag ich es, ihnen etwas ins Getriebe zu werfen. Wie einen Stein oder einen Fluss. Oder ein Eichhörnchen.“
„Ich verstehe nicht,“ sagte Patch nervös.
„Keine Angst, ich meine das metaphorisch. Aber weißt du, was ich mag? Ich mag das Mittlere Königreich. Vögel kommen von so weiter Ferne hierher, weißt du das? Das musst du, du sprichst die Vogelsprache so gut, eine solch seltene Begabung bei einem kleinen Fellball wie du einer bist. Sie kommen aus allen vier Ecken der Welt hierher und in den Wald, in dem Old One lebt, sie vermischen sich und eine Jahreszeit später kehren sie wieder nach Hause zurück. Die Welt ist ein furchtbar großer Ort, kleines Eichhörnchen. Viel größer und viel furchtbarer, als du jemals begreifen wirst.“
„Old One?“ fragte Patch, mittlerweile gründlich verwirrt.
„Egal. Komm mit mir Patch. Ich möchte dir etwas zeigen. Lass uns die Dinge etwas aufschüren. Lass uns dem Unteren König einen kleinen Streich spielen und sehen, wie flink er tanzen kann, sobald etwas Chaos in der Luft liegt, sollen wir? Folge mir.“
Patch zögerte. „Wohin?“
„Nicht weit. Wir werden beim Einbruch der Dunkelheit da sein. Das kann ich dir versprechen. Ich weiß alles über den Einbruch der Dunkelheit.“
„Ich kann nicht. Tut mir leid. Mein Bein, ich kann nicht gehen.“ Patch war erleichtert, dass er diese Ausrede hatte. Er wollte nicht mehr Zeit als absolut notwendig in der Gesellschaft von Coyote verbringen. Er schien freundlich zu sein, sein vergnügtes Lächeln wankte nie, aber etwas an ihm war Furcht einflößend, etwas Altes und Erbarmungsloses.
„Dein Bein, ja, dein armes vergiftetes Bein. Lass uns einen kleinen Blick darauf werfen.“
Coyote lief zu dem Busch hinüber, der Patch Schutz bot. Patch erstarrte, behielt aber Platz, offensichtlich machte es keinen Sinn, davonzurennen.
Aus der Nähe war Coyotes wilde Witterung berauschend, so als würde man die Träume eines anderen einatmen. Coyote senkte seinen Kopf zu Patchs verwundetem Hinterbein hin und schleckte es einmal mit seiner roten und raspeligen Zunge ab. Sie fühlte sich trocken an wie ein Stein, der über Patchs Bein gerieben wurde. Das Bein begann sofort, vor Wärme zu prickeln.
„Keine weiteren Entschuldigungen,“ sagte Coyote. „Folge mir.“
Er drehte sich um und ging in Richtung Nordwesten. Patch machte einen zaghaften Schritt nach vorne. Zu seinem Erstaunen fühlte sich sein vergiftetes Bein wieder stark und schmerzlos an. Durcheinander, nervös, aber auch dankbar folgte Patch dem mysteriösen goldäugigen Coyoten in das Licht der untergehenden Sonne.
0 Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Abonnieren Kommentare zum Post [Atom]