50. Die Truthähne
Da waren vier von ihnen, große Eichhörnchen, wohlgenährt. Ihre Gesichter und Felle waren zerfetzt und vernarbt und voll von dunklen Streifen aus Blut, sie trugen einen verdrehten Gesichtsausdruck aus Wut und Hass und sie hatte Patch zwischen zwei Zedern am Hang eines Hügels oberhalb einer menschlichen Schnellstraße umzingelt. Er spürte ein übles, sinkendes Gefühl in seinen Eingeweiden. Dies bedeutete Ärger, großen Ärger, das wusste er bereits. Und es gab keinen Ausweg. Er schaute hoffend in den Himmel, aber weder Toro noch Karmerruk waren da um ihm zu helfen.
„Wer bist du?“ wollte das größte von ihnen wissen, ein Eichhörnchen, das beinahe so groß und stark wie Patchs Freund Twitch war.
„Ich gehe nur spazieren,“ sagte Patch, um von der Frage abzulenken. „Ist irgendetwas nicht in Ordnung?“
„Wer bist du?“ wiederholte das große Eichhörnchen wütend. „Bist du vom Ramble oder von den Wiesen?“
„Rattenbiss,“ fauchte eines der anderen Eichhörnchen, ein relativ kleines mit einer blutigen Höhle dort, wo sich ihr linkes Auge befinden sollte. „Ich kenne meine Bisse, das ist kein Eichhörnchenbiss, das ist ein Rattenbiss an seinem Bein, er ist vom Ramble, er ist einer von ihnen!“
Die vier Eichhörnchen machten den Kreis enger, Mord war in ihren Augen zu sehen.
Patch sagte langsam und klar vernehmbar: „Ich schwöre beim Mond, dass ich nicht vom Ramble bin.“
Ein merkwürdig schauderndes Gefühl kam aus seinem Inneren und breitete sich bis zu seiner Haut hin aus, so wie es schon das letzte und einzig vorherige Mal gewesen war, bei dem er je auf den Mond geschworen hatte. Einen Augenblick lang fühlte er sich schwach und krank, die Welt um ihn herum verschwamm, alle ihre Formen liefen zu einer einzigen gestreiften Ansammlung von Farben zusammen. Als die Welt zurückkehrte, hatten die vier Eichhörnchen etwas eingeschüchtert von ihm abgelassen.
„Wer bist du dann?“ fragte das größte Eichhörnchen, dieses Mal ruhig.
„Ich bin,“ Patch zögerte einen Augenblick, „Pale, Sohn von Shiny, aus der Suchersippe, vom Wiesenstamm.“
„Die Wiesen, hä? Was machst du hier ganz alleine?“
„Ich war,“ improvisierte Patch, „Ich war in der Schlacht letzte Nacht. Ich wurde von einem der Ramble von einem Baum gestoßen, ich muss bewusstlos gewesen sein, ich bin gerade erst aufgewacht. Ich komme zur Armee zurück. Wohin muss ich gehen?“
„Er lügt,“ sagte das einäugige Weibchen. „Er ist ein Spion. Er ist vom Nördlichen Stamm.“
„Bin ich nicht!“ sagte Patch schwach. Er hoffte, dass er es nicht beim Mond schwören musste. Die Nachwirkungen des letzten Schwurs waren nicht angenehm gewesen.
„Nördliche Eichhörnchen sind rot,“ entgegnete eines der anderen.
Patch begriff, dass keiner von ihnen zu vermuten schien, dass er von den Baumkronen war. Das war Glück – auf der einen Seite – aber es war auch eine schreckliche Bestätigung dafür, dass Whites furchtbare Geschichte wahr gewesen war, dass sein ganzer Stamm ausgelöscht worden war. Ihm war kalt, so als wäre er in eiskaltes Wasser getaucht. Kalt und auf einmal auch wütend.
„Wer seid ihr?“ wollte er wissen. „Warum sollte ich euch antworten?“
Die Eichhörnchen schauten sich, etwas stutzig über Patchs Kühnheit, gegenseitig an, bis das größte von ihnen mit überraschter Stimme sagte: „Was denkst du denn, wer wir sind. Wir sind Truthähne. Wir sind hier, um Deserteure zu finden.“
„Ich bin kein Deserteur.“
„Das werden wir noch sehen,“ sagte das vierte von ihnen. „Wie heißt deine Ratte?“
Patch schaute ihn an. Er verstand nicht einmal die Frage.
Dann kreischte das einäugige Weibchen: „Menschen!“
Und tatsächlich kam eine kleine Menschenfamilie, zwei große und zwei kleine auf den Ort zu, an dem die fünf Eichhörnchen standen. Die Truthähne zerstreuten sich auf der Stelle – aber Patch dachte blitzschnell nach und blieb dort, wo er war. Die Menschen ließen ihn unbehelligt und gingen weiter in Richtung der Schnellstraße.
Patch folgte ihnen nach und blieb so nahe bei ihnen wie er konnte. Er blickte über seine Schulter und sah, dass die Truthähne ihm folgten. Sie hatten ihre Reißzähne gefletscht. Er beeilte sich, um mitzuhalten – aber selbst die kleinen Menschen bewegten sich zu schnell für ihn. Er versuchte, zu traben, aber bei jeder Bewegung durchzuckten sein Bein höllische Schmerzen. Die Menschen entfernten sich und die Truthähne fingen an, zu rennen.
Sie hatten ihn beinahe eingeholt. Patch drehte sich zu ihnen um, die Reißzähne gefletscht, bereit dazu, kämpfend zu sterben –
– und die Truthähne schauten an Patch vorbei, erbleichten, drehten so schnell auf der Stelle um, dass das einäugige Weibchen tatsächlich in ihrer Hast, den Kopf dahin zu bewegen, wo ihr Schwanz gewesen war hinfiel, und flohen. Alle preschten sie auf die nächstliegende Zeder zu und an ihr hinauf; sie rannten, als wäre der Teufel persönlich hinter ihnen her gewesen.
Patchs Herz verkrampfte sich. Während er sich zur Schnellstraße hin umdrehte, wusste ein Teil von ihm bereits, was er zu Gesicht bekommen würde.
Ein großer Hund hatte sich von seinem Herren losgerissen und rannte geradewegs auf ihn zu, in seinen Augen lag der bösartige Nervenkitzel der Jagd.
Patch versuchte zu rennen. Sein Bein gab unter ihm nach und er fiel und der Hund stand über ihm. Reißzähne blitzten in seinem stinkenden, geifernden Maul. Seine Leine schlenkerte schlaff über den Boden. Es waren nirgendwo Menschen in der Nähe. Patch schloss seine Augen. Dies war das Ende. Er hoffte, dass es nicht zu sehr wehtun würde.
Der Hund brüllte so laut, dass Patch einen Augenblick benötigte, bis er seine Worte entziffern konnte:
„Oh, danke, danke, kleines Eichhörnchen! Oh, du retten mich, du retten mich!“
Einen langen Augenblick später wagte es Patch, seine Augen zu öffnen. Der Hund schleckte ihn mit seiner langen, triefenden Zunge ab. Patch sprang entsetzt zurück. Der Ekel gab ihm genug Kraft, um sich selbst auf die Beine zu hieven. Er schaute am zahnigen Schlund des Hundes vorbei in sein Gesicht und sein Kinn klappte vor lauter staunendem Wiedererkennen herunter.
„Beeflover!“ brüllte er.
„Kleines Eichhörnchen!“
In der Ferne sah Patch die Menschen auf ihn zu rennen. Beeflovers Menschen, die ihrem unangeleinten Hund nachliefen.
Vor lauter Überraschung war ihm schwindelig. Es war zu viel um ihn herum los. Er fühlte sich beinahe so, als würde das Schwarzblutgift erneut beginnen, durch seinen Körper zu strömen. Aber er wusste dass er nachdenken musste, schnell nachdenken. Wenn die Menschen erst einmal hier waren und Beeflover mitgenommen hatten, würden die Truthähne zurückkommen und er hatte keine Kraft mehr übrig, um zu rennen.
„Beeflover,“ sagte er, „kannst du mich über die Schnellstraße tragen?“
Beeflovers Augen begannen zu leuchten. „Die Schnellstraße! Oh, Junge! Natürlich! Oh, das wird ein Spaß, kleines Eichhörnchen, lass uns gehen, lass uns gehen!“
Patch schloss vor Schreck seine Augen, als die Reißzähne des Hundes nach ihm schnappten, sich schlossen und seinen Körper überraschend feinfühlig festhielten – dann erhob sich Patch in die Luft, während er von Beeflovers geöffnetem Maul gehalten wurde. Patch öffnete die Augen, er sah, dass die Welt sich um ihn herum drehte und überschlug, realisierte, dass ein Hund rannte, während er ihn in seinem Maul festhielt und schloss sie wieder so fest wie möglich. Er versuchte, nicht durch die Nase zu atmen. Beeflovers Atem war sogar noch schlimmer als die erstickende Luft der goldenen Hügel im Königreich des Wahnsinns.
Dann spürte Patch einen heftigen Ruck und er fiel. Er purzelte zu Boden, jaulte vor Schmerz, als sein verwundetes Bein aufschlug und kam taumelnd wieder auf die Beine. Beeflover schaute mit einem breiten Grinsen auf Patch herab. Zwei Menschen standen über ihm, hielten seine Leine und schimpften ihn lauthals aus.
„Das hat Spaß gemacht!“ schrie Beeflover, bevor seine Menschen ihn davon zerrten.
Patch schaute sich um. Er war ganz in der Nähe der Schnellstraße. Ein weiteres Pferd, welches an eine Holkiste angebunden war, kam klapp-klapp-klappernd entlang der Schnellstraße auf ihn zu. Er konnte kaum gehen, Beeflover war nicht mehr da und die Truthähne waren schon wieder zurück auf dem Boden und nahmen erneut die Verfolgung auf. Auf keinen Fall würde er ihnen davonrennen können.
Patch wartete. Er hatte nur eine Hoffnung. Die Truthähne kamen näher und ihre Gesichter leuchteten vor bösartiger Siegesfreude –
– aber als das Pferd, welches die riesige Kiste auf Rädern hinter sich herzog an ihm vorüberging, nahm Patch alle Kraft, die er in seinen drei gesunden Beinen übrig hatte zusammen, um auf den flachen Holzstock, der zwischen den gewaltigen Rädern der Kiste entlanglief zu springen. Einen langen und atemberaubenden Augenblick lang zappelte er an der Kante dieses Vorsprungs, dann, gerade als er dachte, dass er abrutschen würde, bekamen seine Krallen einen Astverwachsung im Holz zu fassen und er kletterte voll ganz hinauf.
Patch lag ausgelaugt und dem Zusammenbruch nahe da, während das Pferd stetig die Schnellstraße entlang klapperte. Die irritierten Truthähne stoppten und gafften ihn an. Und während sie in der Ferne verschwanden, erlaubte sich Patch trotz der Schrecken und Gräuel des vergangenen Tages ein kleines triumphierendes Lächeln.
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