49. Taildancer
Patch schaute nach oben und sah stockende Bewegungen in den Ästen über ihm, welche von den langen, grünen Vorhängen der Blätter der Trauerweide verdeckt wurden. Er atmete tief ein, biss die Zähne gegen die Höllenschmerzen in seinem Bein zusammen und kletterte den Stamm der Trauerweide hinauf. An der Biegung, an der ein großer Ast aus dem Stamm ragte, pickten zwei Krähen an einem Tier herum, das dort zuckend und keuchend lag. Es war so blutverschmiert, sein Gesicht und Fell waren so schlimm zerfetzt, dass Patch einen Augenblick lang dazu benötigte um zu erkennen, dass es ein Eichhörnchen war.
„Verschwindet von dort!“ schrie er in der Vogelsprache und attackierte die Krähen. Sein schlimmes Bein knickte unter ihm weg und er wäre beinahe gestürzt, aber die Heftigkeit seines Gebrülls verjagte die schwarzen Vögel; sie hüpften von der Trauerweide und glitten hinfort, um andere Beute zu finden.
„Hilf mir,“ stöhnte das Eichhörnchen. Sie war jung, kaum ausgewachsen. „Oh, bitte, hilf mir.“
Patch konnte mit einem Blick sehen, dass ihre Wunden tödlich waren. Er sah Knochen und Innereien durch die vielen Risse in ihrem Fell.
„Es tut mir leid,“ sagte er.
„Ich will nicht sterben. Meine Zeit kann noch nicht gekommen sein. Ich bin zu jung.“
Patch sagte nichts.
„Wer bist du?“ fragte sie.
„Ich bin Patch, Sohn von Silver, aus der Suchersippe, vom Baumkronenstamm. Wer bist du, der das wissen will?“
„Ich bin Taildancer, Tochter von Shine, aus der Rennersippe, vom Wiesenstamm.“
„Vom Wiesenstamm? Aber dies hier ist der Ramble – was ist hier passiert? Wann?“
„Krieg,“ sagte Taildancer. „Letzte Nacht. Es gab eine Schlacht. Es war entsetzlich. Wir griffen den Ramble an. Ich wollte es nicht. Niemand wollte es. Aber sie haben uns gezwungen.“
„Wer?“
„König Redeye und Sniffer und die Ratten. Wir mussten ihnen gehorchen. Sie geben nur denjenigen Eichhörnchen Nahrung, die kämpfen. So viele der Wiesen sind verhungert.“
Patch blinzelte verwirrt. „Verhungert? Aber es ist Frühling! Es gibt überall Nahrung!“
„Nein,“ sagte sie. „Sie nehmen sie alle weg. Wir müssen alles, was wir finden bei den Ratten oder den Truthähnen abgeben und sie bewachen es und uns ist nur erlaubt zu essen, was sie uns geben. Sie töten Eichhörnchen, die Nahrung behalten oder die Nüsse vergraben, manchmal nur dafür, dass man irgendwohin alleine geht. Manchmal ganz ohne Grund. Es sind nicht nur die Ratten. Andere Eichhörnchen, Redeyes Sippe, die Truthähne, sie spionieren den Rest von uns aus, sie erzählen den Ratten alles.“
Patch starrte sie mit stillem Entsetzen an.
„Sie zwangen uns dazu, letzte Nacht anzugreifen, im Dunkeln,“ sagte Taildancer. Ihre Stimme wurde schwächer. „Da waren Eulen. Wir überraschten sie, sie schliefen. Wir schlugen sie, sie rannten nach Norden davon. Wir dachten, die Schlacht wäre vorüber. Wir hatten ihre Bäume eingenommen. Aber dann stellten die Ratten allen Eichhörnchen nach, die übrig waren. Wiesen, Ramble, sie machten keinen Unterschied. Es waren so viele. Ich tötete drei von ihnen, aber da waren so viele. Alles was ich hören konnte war schreien, überall unter mir, ich dachte, es würde mich in den Wahnsinn treiben. Und dann war es für eine kleine Weile ruhig. Dann ging die Sonne auf und die Krähen kamen und das Schreien fing erneut an. Nun ist es ruhig, oder nicht, Patch, Sohn von Silver? Es ist friedlich.“
„Ja,“ flüsterte Patch. „Es ist friedlich.“
„Ich bin froh, dass du mich gefunden hast. Nun ist meine Zeit gekommen, oder nicht? Ich bin froh, dass ich nicht alleine bin.“
Das eine Auge, das Taildancer geblieben war, schloss sich und öffnete sich nicht wieder. Patch blieb eine lange Zeit bei ihr und betrachtete ihren bewegungslosen Körper. Dann kletterte er ganz hinauf auf die mächtige Trauerweide, während er wegen den Schmerzen in seinem Bein zusammenzuckte. Als er auf einem Ast stand, der so schmal war, dass er drohte, unter seinem Gewicht zusammenzubrechen, betrachtete er die krähenbeladenen Bäume des Ramble im grünen Mittleren Königreich. Er war so hoch über dem Gestank nach Blut und Krieg, und die Baumkronenluft war klar und rein. Er konnte die Große See im Norden riechen. Er fing sogar die Witterung von König Thorn selbst auf. Das war für sich selbst betrachtet nicht überraschend, der König hatte immerhin in diesem Berg gelebt. Was Patch erstaunte, was ihn so überraschte, dass er beinahe heruntergefallen wäre, war der schwächste Hauch, der dünnste Hinweis auf ein weiteres Eichhörnchen.
Patch schnüffelte wieder und wieder in die Luft. Er fragte sich, ob sein Verstand vielleicht seine Sinne austrickste, indem er Hoffnung und Realität zur Wahnvorstellung vermischte. Aber am Ende konnte er das, was ihm seine Nase sagte, nicht leugnen. Entweder war er verrückt geworden – oder seine Mutter Silver war auf eben diesem Ast gestanden und zwar vor noch nicht allzu langer Zeit.
Die Sonne war schon halbwegs über den Horizont, als Patch unter Schmerzen die Trauerweide wieder hinab stieg und begann, seinen Weg in Richtung Nordosten durch die blutgetränkten Hügel des Ramble fortzusetzen. Falls König Thorn und Silver noch am Leben waren, würden sie im Norden sein. Es gab im gesamten Mittleren Königreich keinen anderen sicheren Ort mehr.
Patch humpelte wie betäubt vorwärts und er versuchte, nicht darüber nachzudenken, was er gerade gesehen und gerochen und gehört hatte, während die Schatten um ihn herum länger wurden. Er wünschte sich, er wäre bei White geblieben. Er war so benommen, sein Verstand war so weit von der Welt entfernt, dass er nicht bemerkte, dass er umzingelt war bevor es zu spät war.
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