A children's book for adults by Jon Evans
Aus dem amerikanischen Englisch von Sven Räbiger

1. September 2007

48. Der Ramble

Seltsamerweise war Patchs Instinkt nicht, mit Schrecken die Flucht vor dem Schlachtgeruch zu ergreifen, stattdessen fühlte er sich dazu verpflichtet, unverzüglich hin zum Ramble zu hetzten, als würde er dort verzweifelt gebraucht. Anstatt auf dem langen Weg um das Gewässer herum weiter zu gehen, änderte er seinen Kurs und eilte geradewegs auf die Brücke zu, welche die Schmale See überspannte.

Nur einen Mondzyklus eher hätte sich kein Eichhörnchen im ganzen Mittleren Königreich auf die Brücke gewagt, ganz unabhängig davon, was der Anlass gewesen wäre. Sie war ein Menschenpfad. Aber in der Zwischenzeit war Patch an menschlichen Schnellstraßen entlang gereist, war als blinder Passagier auf einem menschlichen Boot gefahren, war einem verschlossenen Stahlkäfig entkommen, hatte auf Metalltreppen geschlafen, hatte auf fahrenden Automobilen gesessen und war zusammen mit Menschen durch unterirdische Tunnel gefahren. Er sah keine Hunde in der Nähe, und während die schiere Körperfülle der Menschen ihn immer noch aus der Fassung brachte, wurde dies vom Drang, sich zu beeilen überlagert. Er überquerte die Holzbrücke so schnell er konnte auf seinem schmerzgeplagten Bein, ohne auf die Dutzenden von Menschen Acht zu geben, die ihn verblüfft anstarrten, als er im Zickzack seinen Weg zwischen ihnen hindurch fand.

Einmal hinüber, verließ er die menschlichen Pfade und folgte einem ausgetrockneten Wasserlauf einen Hügel hinauf, während er die riesige Trauerweide ansteuerte, die bei Patchs letztem Besuch des Rambles den Hof von König Thorn beherbergt hatte. Der dichte Gestank nach Blut und Kampf war so intensiv, dass er durch den Mund atmen musste, aber er nahm keine anderen Anzeichen der Gewalt wahr. Es war vollkommen still bis auf die dahinjagenden Krähen und ein paar unbeholfenen Menschen, und das dichte Gewirr aus nahe beieinander wachsenden Bäumen, Granithügeln, steilen Schluchten, hohen Gräsern und dichtem Unterholz waren wie eine blickdichte Mauer.

Dann sah Patch einige Krähen, die auf einem Felsen hockten und so dicht beieinander saßen, dass sie wie ein einziger sich windender Knoten aus schwarzen Federn aussahen. Rinnsale aus Blut waren unter ihren skelettartigen Füßen sichtbar. Das Gras und die Büsche hinter ihnen erzitterten mit krampfhaften Bewegungen; Tiere bewegten sich in ihnen.

Patch zögerte einen Augenblick, dann stürzte er sich in das grasige Unterholz und kämpfte sich durch das Dickicht und die herabgefallenen Äste. Bald stieß er auf fünf Krähen, welche in einem engen Kreis angeordnet waren und etwas fraßen. Als er näher herankam, bemerkte er, dass es ein totes Eichhörnchen war. Hinter ihnen pickten drei weitere Krähen am Kadaver einer toten Ratte herum. Der Boden war feucht von Blut. Die Krähen unterbrachen ihre Fütterung gerade lange genug, um mit ihren schwarzen und leuchtenden Augen einen Blick auf Patch zu werfen, bevor sie sich dann wieder ihrem Festschmaus aus Aas zuwendeten. Patch zögerte einen Moment, da er nicht wusste, was er sagen oder tun sollte, dann drängte er sich an den fressenden Krähen vorbei und tiefer in das dichte Gras hinein, wobei er sich schnell und blind vorwärts bewegte. Er konnte kaum weiter als eine Schwanzlänge in jede Richtung sehen, aber er kam an einem Dutzend Eichhörnchen und Ratten auf seinem Weg zur Trauerweide vorbei. Alle waren sie tot und von Krähen bedeckt.

Als er die Trauerweide erreicht hatte, kletterte er verzweifelt hinauf und nahm kaum Notiz davon, dass sein vergiftetes Bein wie Feuer brannte. Seine Herzschläge fühlten sich wie Donnerschläge an und sein Kopf brummte vor lauter Panik. Als er auf der hellen Rinde des ersten Astes hinauskletterte, sah er auf ein Blutbad hinab. Da waren sich bewegende Klumpen aus Krähen soweit er sehen konnte, die an etlichen, nein Hunderten von Leichnamen herumfraßen. Andere Krähen säumten die Äste der Bäume des Rambles und warteten bis sie an der Reihe waren, während sich ihre Sippschaft unter ihnen an den Toten voll fraßen bis sie satt waren.

Eine Krähe saß nur eine Schwanzlänge von Patch entfernt. Sie war sogar noch schwärzer, als diejenigen, die Patch im Verborgenen Königreich gesehen hatte, so dunkel, dass sie eher wie ein vogelförmiges Stück Nacht als wie ein echtes Tier aussah.

„Was ist hier passiert?“ fragte Patch verzweifelt. „Wann?“

Sie drehte ihren Kopf Patch zu, fixierte ihn mit ihren ausdruckslosen, glänzenden Augen, lächelte und sagte nichts.

Patch machte einen Schritt auf sie zu. „Sag mir, was passiert ist!“

Das trockene Krächzen der Krähe hörte sich wie das Splittern toter Knochen an. Sie entfaltete ihre Flügel, stieg vom Ast und flog davon.

„Hilfe,“ keuchte eine leise Stimme von oben, eine Eichhörnchenstimme. „Oh, Licht des Mondes, hilf mir, sie werden mich bei lebendigem Leib auffressen.“

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Jon Evans is the award-winning author of the thrillers Invisible Armies, Dark Places (aka Trail of the Dead), and The Blood Price. See his web site rezendi.com.

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