47. Zum Ramble
Früh am nächsten Morgen, sechs Tage, nachdem er dem Tode sehr nahe zusammengebrochen war, stieg Patch sehr langsam auf die Erde hinab, während White ihn besorgt von oben beobachtete. Als er schließlich den Boden erreichte, winkte er mit seinem Schwanz und machte sich über das Gras hinweg auf den Weg zum wilden Ramble im Herzen des Mittleren Königreichs. Er humpelte nur leicht, aber er wusste, dass klettern schmerzhaft und rennen unmöglich sein würde.
Der Morgen war hell und wunderschön. Trotz Patchs vieler Sorgen, trotz der furchtbaren Neuigkeiten von Redeyes Sieg in der Schlacht um die Wiesen und des Untergangs des ganzen Baumkronenstamms, trotz seiner Angst um das Schicksal von Tuft und Brighteyes und vor allem seiner Mutter Silver war es wundervoll, wieder zu Hause zu sein und die volle Frühlingsluft zu riechen und über die grünen Felder unterhalb der majestätischen Bäume des Mittleren Königreichs zu wandern. Patch fühlte sich beinahe so, als wäre er nie fort gewesen, so, als wäre seine gefährliche Reise um die halbe Welt nicht mehr als ein fürchterlicher Alptraum gewesen.
Es waren keine anderen Tiere in der Nähe. In dieser Ecke des Königreichs war es immer ruhig. Der Kerker war in der Nähe und die Tiere mieden den Kerker, so als ob seine Stahlmauern herausgreifen und sie verschlingen könnten. Selbst Patch, welcher einen Großteil seines Lebens damit verbracht hatte, bei seinen rastlosen Erkundigungen das Königreich zu durchstreifen, war nur zwei oder drei Mal vorher hier gewesen und war nicht lange geblieben.
Er ging nordwärts in Richtung des Ramble, bis ihm ein Hauch des unvergesslichen Dufts des Kerkers entgegenwehte: eine Mischung aus den Witterungen Dutzender fremdartiger Tiere, welche alle nach Wahnsinn und Verzweiflung stanken. Unbehaglich machte er einen Umweg nach Westen, anstatt näher heran zu gehen. Als er die stattliche Reihe gewaltiger Ulmen erreichte, die zum Ramble führten, schmerzte sein verletztes Bein als hätte er einen starken Krampf. Diese Ulmen bildeten Patchs Lieblingsluftstraße im ganzen Königreich, aber durch sein verwundetes Bein war er an den Boden gebunden und dazu gezwungen, durch das Gras unter ihnen hindurch zu stapfen.
Die Kolonnade aus Ulmen endete an einem Betonplatz, welcher mit verschiedenartigen, von Menschenhand geschaffenen Bauten geschmückt war. Auf der anderen Seite des Platzes lag eine der großen Automobilschnellstraßen, welche geradewegs durch das Mittlere Königreich führten. Es war einer dieser Tage, an denen Menschen scharenweise ins Mittlere Königreich einfielen, und er musste seine Route sorgfältig planen. Er fürchtete sich nicht mehr so sehr vor Menschen, aber einige von ihnen hatten Hunde. Patch ging auf dem Gras um den Platz herum. Da waren keine Automobile, aber er musste trotzdem warten, bis er die Schnellstraße überqueren konnte. Ein riesiges Pferd ging vorbei und bewegte sich stetig vorwärts trotz der Last, die es zu tragen hatte, einer großen Holzkiste auf Rädern. Drei Menschen fuhren oben auf der Kiste.
Patch starrte an dem riesigen Tier hinauf, als es vorbeiklapperte. Er wurde immer von der enormen Größe der Pferde eingeschüchtert. Die meisten sagten, dass sie die größten Tiere im Mittleren Königreich wären – obwohl Patch Gerüchte gehört hatte, dass irgendwo im Kerker, gefangen gehalten von Mauern von der Größe hoher Bäume, bleiche, gigantische Raubtiere aus dem äußersten Norden lauerten, welche größer als jedes Pferd waren. Einst hatte Patch diese Gerüchte abgetan, aber seit seiner Begegnung mit Siva dem Tiger war er sich über seinen Unglauben nicht mehr so sicher.
Hinter der Schnellstraße ging er weiter einen breiten, grasbewachsenen Hügel hinauf, welcher mit Kirschbäumen gesprenkelt und von riesigen Granitfelsen durchzogen war. Die helle Sonne näherte sich ihrem Scheitelpunkt am blauen Himmel, als Patch den Gipfel erklomm und über die Schmale See zum rauen und wilden Ramble hinüberschaute, dem wuchernden Herzen des Mittleren Königreichs. Er runzelte die Stirn als er sah, dass die Bäume des Ramble dicht mit Krähen übersäht waren. Krähen waren, soweit er wusste, harmlos, aber es schien nicht richtig, dass sie König Thorns Hoheitsgebiet besetzt hatten.
Er begann damit, nach Nordwesten weiterzugehen, da er beabsichtigte, die Schmale See zu umgehen und sich dem Ramble von Westen her zu nähern, aber er war noch nicht weit gekommen, als er auf einen kalten Nordostwind traf, welcher ihm direkt vom Ramble aus über die Schmale See hinweg entgegenwehte. Dieser Wind stoppte Patch für einen langen Augenblick mitten zwischen zwei Schritten, so als hätte er sich in Stein verwandelt. Er trug einen Geruch von Blut und Tod mit sich, welcher so überwältigend war, dass seine Augen feucht wurden und seine Ohren wegen eines misstönenden Lärmes zu pfeifen schienen.
Etwas lief falsch im Ramble, fürchterlich falsch.
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