43. Daheim
In dem ganzen Blut und Terror des Kampfes hatte Patch die geringfügige Veränderung in der Beschaffenheit des Lichts um sie herum nicht bemerkt. Nun sah er ein heller werdendes Glühen in den entfernten Tiefen des Tunnels, wie ein Feuer, welches neue Nahrung gefunden hatte. Ein starker Wind begann, aus dem Tunnel heraus zu wehen, welcher das Fell an Patchs Schwanz zerzauste. Ein enormer Lärm aus Klappern und Gerassel wurde hörbar, dann lauter und dann so laut, dass weder Eichhörnchen noch Ratte noch Katze etwas anderes hören konnte als eine Kette glänzender, vollwandiger Metallkäfige von der Größe menschlicher Häuser, welche aus der Dunkelheit heraus und so nahe an den Plattformrand herankreischte, dass diese Maschine auf Schienen wie eine Stahlmauer erschien, welche sich entlang der Plattform bewegte. Licht schien aus den Fenstern, welche die Käfige säumten. Die Maschine kreischte und kam zitternd zum halten. Dann öffneten sich Dutzende menschengroßer Türen entlang der Plattform, die das schmerzhaft helle Innere der Käfige offenbarten, welches mit Bänken ausgekleidet war, die mit einigen zusammengesunkenen Menschen belegt waren.
„Beeilung!“ schrie Zelina und sprang in den nächstgelegenen Käfig hinein.
Trotz der Tatsache, dass sie von einer Rattenarmee umzingelt waren, wäre diese Option Patch noch nicht einmal in den Sinn gekommen. Aber die anderen Katzen folgten ihr und Patch krabbelte hinter ihnen hinein. Snout und Sniffer näherten sich gefolgt von ihrer Armee den offenen Türen unsicher – aber die etlichen Menschen innen sprangen auf ihre Füße und fingen an zu kreischen. Die Ratten zögerten an der Türschwelle.
Ein seltsames Zweitongeräusch läutete, dann schlossen sich die Türen zischend und ließen die Ratten draußen zurück.
Der Käfig schepperte vorwärts und alle schwankten ein wenig. Patch verlor beinahe das Gleichgewicht und hatte eine furchtbare Erinnerung ans Herumschleudern auf dem Dach des Großen Automobils, welches sie auf die Insel gebracht hatte, aber dann stabilisierten sich die Bewegungen des Käfigs, er schaukelte immer noch heftig und machte fürchterliche Schleifgeräusche, während er sich bewegte, aber sie waren gleichmäßig genug, dass sie stehen bleiben konnten. Die Menschen im Käfig näherten sich Patch und den Katzen, während sie sich aufgeregt miteinander unterhielten, aber sie kamen nicht zu nahe heran. Der Käfig bremste ab und Patch und die Katzen rutschten ein wenig nach vorne, und dann hielt er an und die Türen öffneten sich erneut – aber diese Plattform sah anders aus und da waren keine Ratten auf ihr. Ein weiterer Mensch betrat den Käfig und hörte jäh damit auf, sich zu bewegen, während er Patch und die Katzen anstarrte. Dann ertönte das Zweitonläuten erneut und die Türen schlossen sich zischend und der Käfig schepperte vorwärts.
Patchs Bein begann erneut zu schmerzen, dort wo Snout ihn gebissen hatte. Die Aufregung des Kampfes hatte den Schmerz eine Weile lang überlagert, aber nun begann er, wie Feuer zu pochen und es tat sogar noch mehr weh, als er die Kraft in seinen Beinen dazu benutzte, aufrecht stehen zu bleiben, während der Käfig erneut abbremste und an einer weiteren Plattform anhielt.
„Wir sollten aussteigen!“ schrie Alabast zu Zelina hinüber. Sein bleicher Körper war blutgestreift und seine Muskeln waren steif vor Anstrengung.
Zelina trat an eine der offenen Türen heran und schnüffelte in die Luft. Wie alle die anderen Katzen blutete sie an mehreren Stellen, aber keine ihrer Wunden schien ernster zu sein. „Noch nicht,“ sagte sie. „Ich erinnere mich hieran. So bin ich zum Palast gereist, als ich ein Kätzchen war. Ich war so verängstigt. Noch nicht.“
Mehrere Haltestellen später, als Patch sich fragte, wie lang er es noch aushalten würde, mit seinem schlimmen Biss im Bein auf dem Boden dieses wackelnden, schwankenden, beschleunigenden und abbremsenden Käfigs zu stehen, erschnüffelte sie erneut die Luft, spitzte ihre Ohren und sagte: „Hier!“
Sie traten auf eine weitere Plattform hinaus, gingen durch eine weitere Reihe seltsamer metallener Menschendinge hindurch, und kletterten eine lange Treppe hinauf. Sie kamen an zwei starrenden Menschen vorbei, aber Patch war so müde und ausgelaugt und sein Bein schmerzte so sehr, dass er sie kaum wahrnahm und sich nicht um sie scherte. Alles an das er denken konnte war, wie gerne er wieder unter dem Himmel sein wollte.
Endlich waren da keine weiteren Stufen mehr. Patch taumelte müde den Katzen einen weiteren Betonbürgersteig entlang hinterher. Sein Kopf tat weh und er fühlte sich benommen. Er war sich kaum darüber bewusst, dass sich über ihnen der gestreifte Abendrothimmel ausbreitete und er wäre fast in Alabast hineingerannt, als er bemerkte, dass sie an einer besonders breiten Schnellstraße angehalten hatten.
„Beim Mond,“ sagte Zelina gütig. „Die Große Prachtstraße.“
Patch schaute von seinem Schmerz und seiner Erschöpfung auf und den endlosen Umrissen von Bergen, die über der Großen Prachtstraße aufragten entlang. Sie schien sich nicht so sehr von jeder anderen breiten Schnellstraße zu unterscheiden – bis darauf, dass sie in der Mitte durch lange Streifen mit Erde geteilt war, in denen Blumen und Büsche wuchsen. Dieses lebendige Rückgrat wurde an den Stellen unterbrochen, an denen kleinere Schnellstraßen in die Große Prachtstraße einmündeten, aber es war trotzdem ein willkommener Anblick.
Patch erschnüffelte die Luft. Er roch Katzenblut und Beton und Berge und Automobile. Er roch die Blumen, die in der Mitte der Großen Prachtstraße wuchsen. Aber darüber hinaus roch er in der westlichen Brise schwach ein reichhaltiges Gemisch aus Erde, Wasser, Bäumen und Düfte von Lebewesen. Es war ein Geruch, den er augenblicklich erkannte, ein Geruch, den er in seinen Knochen hatte.
„Das Mittlere Königreich!“ schrie Patch, seine Wunden und Müdigkeit vorübergehend vergessend. „Ich kann es riechen! Wir sind in der Nähe!“
„Mein Palast ist gleich dort, die Große Prachtstraße hoch,“ sagte Zelina. „Ich kann ihn sehen. Ich kann meinen Palast sehen, Patch. Wir sind daheim. Wir sind daheim!“
Sie starrten sich gegenseitig voller Verwunderung an.
Es war Alabast, der die Stille brach. „Was wollt Ihr, dass wir tun, Eure Majestät? Wir haben Euch hierher gebracht, wie Ihr befohlen habt. Sollen wir Euch nun zu Eurem Palast eskortieren?“
Zelina betrachtete ihn und überlegte. „Nein. Ihr habt mir gut und heldenhaft gedient. Ich benötige euch nun nicht länger. Aber ihr sollt für die nächsten sieben Tage in der Nähe der Großen Prachtstraße bleiben und jeden Morgen an diesen Platz zurückkehren, für den Fall, dass ich weitere Befehle an euch habe. Bis dahin, gehet alle hin und rastet und kuriert euch aus. Ich muss allein zu meinem Palast zurückkehren.“
Eine nach dem anderen verbeugten sich die sieben Katzen vor ihr und schritten von dannen.
„Können sie dir nicht helfen, die Katzen zu bekämpfen, die dich verbannt haben?“ fragte Patch verblüfft.
Zelina betrachtete Patch still für was sich wie eine lange Zeit anfühlte.
Dann seufzte sie und sagte: „Es war keine Katze, die mich verbannt hat.“
„Aber wer –“
„Es war das männliche Kind meiner menschlichen Dienerin,“ sagte Zelina. „Eines Tages als sie nicht anwesend war, kam er zum Palast, nahm mich gefangen, brachte mich in einem Automobil fort und brachte mich in die Wildnis, in der du mich gefunden hast. Ich weiß nicht, warum. Ich kann mir nicht vorstellen, warum. Außer auf der Reise, als ich ein Kätzchen war und auf der Metalltreppe außerhalb des Fensters war ich nie zuvor außerhalb des Palastes gewesen. Ich war so verängstigt, als du mich gefunden hast, Patch. So verängstigt und so verzweifelt. Ich wusste, dass es dort keine Hoffnung für mich gab. Ich wusste, dass ich sterben würde. Ich hatte den Mythos der Königin Aller Katzen viele Male gehört und allein in dieser zerbrochenen Schale fasste ich Mut daraus, dass ich mir selbst sagte, dass ich sterben würde wie sie. Ich redete mir sogar ein, ich sei die Königin Aller Katzen.“
„Aber das bist du,“ sagte Patch durcheinander.
„Nein Patch. Das war nur eine Geschichte, die ich mir selbst erzählt hatte und die ich mir sogar erlaubt hatte, zu glauben, um so mein Sterben leichter zu machen. Und dann kamst du. Und du sagtest, du würdest deinen Weg hierher zurückfinden. Und ich erlaubte mir selbst zu hoffen, dass dies möglich wäre. Und beim Mond, jenseits aller Hoffnung, hier sind wir.“
„Du bist nicht die Königin Aller Katzen?“ fragte Patch, immer noch durcheinander.
„Es gibt keine Königin Aller Katzen. Die Königin Aller Katzen ist ein Mythos. Eine Legende von einer einsamen Katze, die die Welt bereist, unbekannt und ungeliebt, welche aber in Wirklichkeit die Königin von uns allen ist und welche eines Tages zurückkehrt, um uns alle zu führen. Sie ist nicht real. Sie war nie real. Ich war niemals eine Königin. Es war nur eine Geschichte.“
„Aber die anderen Katzen denken, dass du eine Königin bist. Ich dachte, du wärst eine Königin. Du wirkst wie eine Königin. Wenn jeder sich verhält, als ob es wirklich wäre, dann ist es nicht bloß eine Geschichte.“
„Da gibt es einen Unterschied,“ sagte Zelina.
„Was für einen Unterschied?“
Zelina zögerte. Schließlich sagt sie: „Dies sind raffinierte Fragen, Patch. Der Tag bricht an und bald werden die Schnellstraßen verkehrsreich sein. Wir sollten beiden nach Hause gehen.“
„Ich schätze, du hast recht,“ stimmte Patch ihr bei.
Neben der Freude, fast zu Hause zu sein, fühlte Patch einen schmerzhaften Stich der Traurigkeit bei dem Gedanken, dass er nun nicht mehr mit Zelina reisen würde.
„Ich verdanke dir mein Leben, Patch, Sohn von Silver,“ sagte Zelina.
„Ich verdanke dir meins ebenso.“
Sie schauten sich beide gegenseitig an.
„Aber ich denke immer noch, dass auf die große Todesmaschine, welche die Brücke überquert hat zu springen die schlechteste Idee war, die ein Tier jemals gehabt hatte,“ sagte Patch und beide mussten lachen.
„Du solltest mich im Mittleren Königreich besuchen kommen,“ sagte Patch. „Frag irgendein Eichhörnchen, es wird wissen, wo ich zu finden bin.“
„Das werde ich,“ sagte Zelina. „Nun, da ich meinen Palast schon einmal verlassen hatte, denke ich, ich werde ihn wieder verlassen. Die Welt ist nicht völlig verängstigend. Manches an ihr ist in der Tat geradezu wundervoll.“
„Gut. Dann, bis bald.“
„Bis bald,“ pflichtete Zelina ihm bei, „mein Freund.“
Sie betrachteten sich gegenseitig einen weiteren Moment lang, während sie jeweils den Duft des anderen einatmeten. Dann drehten sie sich beide im genau gleichen Moment um und gingen ihre getrennten Wege. Patch war aufgeregt, heim ins Mittlere Königreich zu kommen. Aber er wünschte sich, Zelina würde ihn begleiten.
Es war nicht weit bis ins Mittlere Königreich. Aber als er es sah, schmerzte das Bein, in welches er von Snout gebissen worden war, fürchterlich. Als er da so stand, mit nur noch einer weiteren Schnellstraße zwischen ihm und seiner Heimat wusste er, dass er eigentlich Fröhlichkeit über seinen Triumph und Aufregung fühlen sollte, aber sein ganzes Bein tat sehr weh und er fühlte sich darüber hinaus krank und schwindelig und so war alles, was er fühlen konnte, sein Bedürfnis danach, sich auszuruhen. Obwohl es einige Automobile auf der Schnellstraße gab, humpelte er so langsam, dass er es fast nicht geschafft hätte, auf die andere Seite zu huschen. Kurz danach setzte er seine Pfoten wieder auf die grasbedeckte Erde seiner Heimat.
Eine Ulme wuchs nah am Rand des Mittleren Königreichs. Patch zwang sich dazu, ihren Stamm hinaufzuklettern. Zu dem Zeitpunkt, als er eine ziemlich flache Biegung zwischen zwei großen Ästen erreichte, hämmerte sein Kopf vor lauter Schmerz, er ging nur noch auf drei Beinen und ihm war so schwindelig, dass die Welt um ihn herum mit jedem Schritt schwankte. Und trotz der aufgehenden Sonne war ihm kalt. Aber zumindest befand er sich auf einem Baum und in Sicherheit.
Patch drehte sich seiner Wunde zu, da er beabsichtigte, sie sauber zu lecken. Er war geschockt von dem, was er sah. Sein ganzes Bein war rot und geschwollen und ein widerlicher schwarzer Schleim sickerte aus der Wunde heraus.
Patch begriff, dass dies keine einfache Bisswunde war. Snouts Biss war giftig gewesen.
Patch wusste nicht, was er tun sollte. Er wollte wegrennen, nach Hilfe suchen, aber er war zu schwach, um sich zu bewegen. Bald darauf war er sogar zu schwach, um zu stehen. Seine Kopfschmerzen wurden stetig schlimmer und die Welt immer kälter und verschwommener, bis Patch schließlich auf der Biegung der Ulme zusammenbrach.
Er begriff vage, dass das Gift ihn tötete; dass er daheim war, aber starb. Das letzte, das er fühlte, war die raue Beschaffenheit von Ulmenrinde in seinem Gesicht. Er hatte eine jähe, lebhafte Erinnerung an den Duft seiner Mutter Silver.
Dann wurde die Welt schwarz.
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