A children's book for adults by Jon Evans
Aus dem amerikanischen Englisch von Sven Räbiger

23. August 2007

39. Hunde

Endlich war Patch nach vielen Tagen gefährlicher Reise auf die Insel, auf der er geboren wurde, zurückgekehrt. Aber je länger er auf dem Baum stand, auf den sie hinab gestiegen waren und herauszufinden versuchte, wie er durch die Berge hindurch zum Mittleren Königreich reisen konnte, umso mehr begriff er, dass seine Probleme nicht kleiner wurden. Wenn schon, dann hatten sie sich vergrößert. Er wusste nicht, wo auf der Insel er sich befand, aber er wusste, dass er immer noch weit von seinem Zuhause entfernt war. Es gab überhaupt keine Luftstraße und die Schnellstraßen und Bürgersteige der Insel waren verkehrsreicher, lauter und gefährlich überfüllter als alle, die Patch je zuvor gesehen hatte. Das eine, kleine Trostpflaster war, dass es sehr wenige Hunde gab; aber der Geruch von Ratten war überall vorhanden.

Sie blieben eine lange Zeit auf dem Baum. Zelina war davon abgeneigt, überhaupt vom Baum herabzusteigen, da die untersten Äste des Baumes sich hoch über dem Boden befanden und Patch war davon abgeneigt, sich auf den Bürgersteig, aus dem der Baum herauswuchs und welcher von Menschen wimmelte, zu wagen. Erst als die Sonne schon lange hinter den Bergen im Westen verborgen lag und die Flut von Menschen zu einem Rinnsal abgeklungen war, rannte Patch den dünnen Stamm entlang auf den Bürgersteig hinab. Zelina versuchte, ihm zu folgen und fiel prompt – aber sie landete anmutig auf ihren Pfoten, unverletzt.

Sie rannten sofort zur Kannte des nächsten Berges. Der Rattengeruch war hier etwas stärker, aber die Menschen hielten einen gewissen Abstand zu den Bergen. Einige Menschen, an denen sie vorbeikamen hielten an, drehten sich nach ihnen um und redeten miteinander. Patch und Zelina ignorierten sie. Er führte sie nach Norden; er wusste zumindest, dass seine Heimat in dieser Richtung lag. Als sie an die Einmündung zweier Schnellstraßen kamen, folgten sie der größeren und als die kleinere einmündete, kauerte er sich in den Schatten des Berges an der Ecke und versuchte, das Zeitintervall der Lichter über ihm zu messen.

„Warte,“ sagte Zelina.

Patch schaute sie an. Er zitterte vor Anspannung; auf menschlichen Bürgersteigen, umgeben von Todesmaschinen auf den Schnellstraßen herumzurennen, fühlte sich immer noch hochgradig unnatürlich an; all die immer noch ständig vorbeikommenden Menschen, welche blind nur eine Schwanzlänge von Patch entfernt vorbei schritten waren sogar noch verstörender. Aber Zelina schien beträchtlich gelassener zu sein. „Was?“

„Wir sollten warten und nachts reisen.“

„Wir können nicht nachts reisen. Da gibt es Eulen –“

„Es mögen Eulen über dem Mittleren Königreich und dem Fluss fliegen, vielleicht sogar über den Fluss hinüber,“ sagte Zelina, „aber der Himmel, der sich jetzt über uns befindet ist, wie du zur Kenntnis nehmen wirst, fast vollständig von Bergen eingenommen, was sehr wenig Platz für Eulen übrig lässt. Tagsüber ist es zu verkehrsreich, es gibt zu viele Gefahren, etwas wird uns zerquetschen. Aber die Nacht ist ruhig in der Stadt.“

„Woher weißt du das?“

„Ich habe die die Große Prachtstraße von der Metalltreppe außerhalb meines Palastes aus beobachtet. Glaub mir, Patch. Wir können nicht an diesen Schnellstraßen entlang zu deinem Zuhause rennen, solange die Sonne am Himmel steht. Du wirst deine Heimat nie lebend erreichen. Du musst Vertrauen in den Mond haben.“

„Also, was meinst du?“

„Lass uns die kleinere Straße entlang gehen, uns einen Baum oder ein Hausdach suchen, ein wenig schlafen und dann bei Nacht reisen.“

Patch überlegte. Bei Nacht zu reisen war unnatürlich und entnervend. Aber genauso war nahezu alles andere, was er getan hatte, um nach Hause zu gelangen gewesen. „In Ordnung.“

Während sie die kleinere und weniger stark befahrene Schnellstraße weiter entlang gingen, kamen sie, über die Schnellstraße hinweg, an einem großen Hund mit fleckigem Fell vorbei, der sehr eng an einer der verkümmerten Erlen, welche inmitten der Berge wuchsen, festgebunden war. Patch beobachtete ihn sehr aufmerksam für den Fall, dass die Leine schwach war; aber obwohl sie sich windwärts zu dem Hund befanden, heulte er nicht nach ihrem Tod.

„Schmerzt sehr!“ jammerte er stattdessen kläglich. „Oh, schmerzt sehr, schmerzt sehr, schmerzt so sehr!“

Patch, welcher überrascht war, beobachtete ihn genauer. Der Hund musste irgendwie wiederholt im Kreis um den Baum herumgegangen sein, an den er angeleint war, denn seine gesamte Leine war so eng um den Baumstamm gewickelt, dass die Seite des Hundes sich schmerzhaft an der rauen Rinde rieb. Der Hund wollte dringend loskommen, aber Hunde waren nicht fürs Denken bekannt und dieser hier war nicht fähig zu verstehen, dass er rückwärts gehen musste. Stattdessen versuchte er weiter, nach vorne zu springen und sich von der Leine zu befreien, aber jedes Mal schaffte er es nur, sich selbst zu würgen und seine mittlerweile blutige Seite an der Rinde zu scheuern.

„Hunde sind so dumm,“ sagte Zelina verächtlich, während er wieder nach vorne lossprang, von seiner Leine zurückgezogen wurde und beinahe hinfiel.

„Schmerzt,“ schnaufte er schäbig keuchend. „Schmerzt sehr, kann nicht entkommen, oh, helfen mir, helfen mir, helfen mir!“

Zelina begann, weiterzugehen. Patch nicht. Er erinnerte sich daran, als er selbst in der Metallschlinge gefangen war und wie seine Pfote vor Schmerz brannte und die schreckliche Verzweiflung, die er in dem Wissen gespürt hatte, dass niemand zu Hilfe kommen würde und er spürte, dass er vielleicht dort für immer baumeln könnte. Während er den gefangenen Hund betrachtete, spürte er dies erneut ein wenig, nur einen Stich halberinnerten Gefühls, wie der Schatten einer realen Empfindung. Er hasste und fürchtete Hunde, aber er wünschte sich, dass dieser Hund nicht gefangen wäre. Sein fleckiges Fell erinnerte ihn an den hellen Fleck auf seiner eigenen Stirn, welcher ihm seinen Namen gab.

„Schmerzt,“ stöhnte der Hund, „schmerzt so sehr, so sehr.“ Er warf sich erneut nach vorne und machte heftige Würgegeräusche, bis er sich nach hinten fallenlassen und wieder atmen musste.

„Hör auf!“ brüllte Patch den Hund an. „Geh einfach andersherum um den Baum!“

Der Hund ignorierte ihn. „Schmerzt schlimm, schmerzt schlimm, so schlimm!“

Patch schaute die Schnellstraße hinauf und hinab. Es kamen keine Automobile. Er seufzte und raste hinüber.

„Patch, was machst du?“ fragte Zelina erstaunt von hinten.

„Schau mal,“ sagte Patch zu dem Hund, „geh einfach andersherum um –“

„Töten dich! Töten dich!“ heulte der Hund, während er auf die Füße sprang und sich bei dem Versuch, Patch anzuspringen erneut selbst würgte. „T-t-t…oh,“ und er fiel erneut zu Boden, „oh, schmerzt so sehr, so sehr.“

Patch überlegte einen Moment. Dann ging herum den Hund herum hinter den Baum und brüllte, „Hierher!“

Der Hund sprang ihn erneut an. Patch begann, um den Baum herumzurennen. Während der Hund ihn vor Hass und Wut sabbernd verfolgte, wickelte sich seine Leine ab, bis sie sich wieder bis auf den Knoten, der sie am Baumstamm hielt, entwirrt hatte und der Hund soviel Freiheit wieder gewonnen hatte, dass Patch beträchtlichen Abstand vom Baum halten musste.

„Töten dich und fressen dich! Töten dich und fressen dich!“, schrie der Hund aufgeregt, während er sich anstrengte, Patch mit seinen sabbernden Reißzähnen zu erwischen und er seinen vorherigen Schmerz und seine Gefangenschaft offensichtlich vergessen haben zu schien.

„Wie dumm,“ sagte Patch angewidert. „Ich hätte dir niemals helfen sollen.“

Er drehte sich um, um wegzugehen.

Der Hund sagte verwirrt: „Helfen mir?“

„Ja,“ sagte Patch, während er sich wieder umdrehte, und ‚Töten dich und fressen dich!’ ist der Dank, den ich bekomme.“

„Du helfen mir,“ sagte der Hund, als seine Augen schließlich vor Einsicht aufblitzten. „Du helfen mir. Ich nicht mehr Schmerzen habe. Du helfen mir.“

„Ja.“

„Oh danke, danke, danke! Ich nicht mehr Schmerzen habe! Ich nicht mehr Schmerzen habe! Oh danke, kleines Eichhörnchen! Du helfen mir! Ich niemals werde töten dich und fressen dich!“

„Bitteschön,“ sagte Patch etwas besänftigt.

„Wie heißt du, kleines Eichhörnchen?“

Patch sagte reflexartig: „Ich bin Patch, Sohn von Silver, aus der Suchersippe, vom Baumkronenstamm, aus dem Mittleren Königreich. Wer bist du, der das wissen will?“

„Ich bin Beeflover. Oh, danke, danke!“

„Bitteschön,“ sagte Patch. „Auf Wiedersehen.“

Der Hund bellte endlos Danke, während Patch auf eine Lücke im Strom der Todesmaschinen wartete und dann wie beiläufig über die Schnellstraße hinüberflitzte; solche Überquerungen waren mittlerweile schon beinahe zur Routine geworden. Die Sonne war schon fast vollständig untergegangen und er und Zelina mussten sich einen Baum suchen – aber sie war nirgendwo zu sehen. Patch folgte ihrem Geruch, da er dachte, sie hätte ihn, angeekelt davon, dass er einem Hund geholfen hatte, zurückgelassen und wäre weitergegangen, um einen Baum zu finden.

Dann hörte er in der Ferne Zelinas Schmerzens- und Wutschreie und er begann zu rennen.

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Jon Evans is the award-winning author of the thrillers Invisible Armies, Dark Places (aka Trail of the Dead), and The Blood Price. See his web site rezendi.com.

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