A children's book for adults by Jon Evans
Aus dem amerikanischen Englisch von Sven Räbiger

20. August 2007

36. Stadt der Sippen

Patch wurde von der Sonne geweckt. Während er Zelina schlafen ließ, kletterte er langsam die Metalltreppe ganz nach oben und hinauf auf das Dach, zu dem hin sie sich öffnete. Das Dach war flach und weiß und mit hervorstehenden Metalldingen, die so groß wie Menschen waren, gesprenkelt. Patch sprang auf die kleine Ziegelmauer an der Umfassung des Dachs hinauf und schaute sich um. Sein Herz schwoll an. Und zwar, weil er die gewaltigen Berge, welche das Mittlere Königreich umgaben so nah vor sich sah, dass sie einen ziemlich großen Teil des westlichen Himmels verdeckten. Er hatte Angst gehabt, dass die Menschen ihn weit weg von seiner Heimat gebracht hatten; stattdessen hatten sie ihn viel näher zu ihr hin gebracht. Patch verglich das, was er sah, mit der alten Luftansicht aus Karmerruks Krallen und dachte, dass er nur noch eine Tagesreise von dem Fluss entfernt war, welcher an der östlichen Küste der Insel, auf der sich das Mittlere Königreich befand, entlang floss. Er wusste nicht, wie er diesen Fluss überqueren würde, aber da er bereits das Große Wasser und eine Brücke überquert hatte, war er überzeugt davon, dass er einen Weg finden würde.

Die Gegend um ihn herum war ein erstaunliches, dreidimensionales Labyrinth aus menschengemachtem Durcheinander und Bauwerken. Es gab andere Gebäude, breit und flach und niedrig, so wie jenes, auf dem er stand. Es gab unzählige Drahtzäune mit stacheligen Spitzen am oberen Ende. Es gab eine große Anzahl schlafender Automobile. Es gab Schnellstraßen und Grundstücke aus bröckeligem, rissigem Beton und es gab Stellen, an denen sich die Schnellstraßen übereinander kreuzten und Spannen und Tunnel aus Beton bildeten. Sogar die Mauern eines schmalen, schlammigen Flusses in mittlerer Entfernung waren aus Beton. Eine riesige Metallbrücke spannte sich über diesen Fluss. Es gab Luftstraßen aus Pfählen und Drahtseilen, aber es waren wenige und sie waren nicht miteinander verbunden; einzelne Spuren, die zwischen Häusern verliefen oder nur für eine gewisse Zeit den Schnellstraßen entlang, anstatt die gesamten Menschengefilde wie ein ausgedehntes Spinnennetz zu überspannen, wie es im Königreich des Ozeans der Fall gewesen war. In der Ferne hinter dem schmalen Fluss fuhr die größte Maschine, die Patch je gesehen hatte, vorbei. Sie sah aus wie Dutzende vollwandige Metallkäfige, die miteinander verbunden waren und sie ächzte und kreischte und stöhnte, während sie sich bewegte und Lichter, die so hell wie die Sonne waren, flackerten an den Stellen auf, an denen ihre radförmigen Füße auf die Metallschienen, auf denen sie fuhr, trafen.

„Mond im Himmel!“ schrie Zelina hinter ihm. „Dein Schwanz!“

Aufgeschreckt rannte Patch zur Metalltreppe zurück. Zelina war wach und nicht alleine. Bei ihr auf der Metalltreppe befand sich ein seltsames Eichhörnchen. Zelina hatte das Eichhörnchen, welches sie gründlich begutachtete, unabsichtlich in eine Ecke getrieben. Ein ganzes Drittel seines Schwanzes fehlte.

Patch hatte so etwas natürlich schon vorher einmal gesehen. Eichhörnchen sind dazu fähig, sich, falls sie von einem Raubtier gepackt werden oder etwa unter einem umgefallenen Baum eingequetscht sind, von Teilen ihres Schwanzes zu trennen, um so zu entkommen. Dies wird nicht leichtfertig getan; der Schwanz eines Eichhörnchens ist, neben seiner Funktionen als Ruder, Schattenspender und Zudecke, die Krönung seiner Schönheit und Eitelkeit.

„Geh weg!“ sagte das Eichhörnchen verängstigt; Zelina war nicht größer als ein Eichhörnchen, aber sie war immer noch ein Raubtier.

„Was hast du mit Patch gemacht?“ wollte sie wissen.

„Ich bin hier,“ sagte Patch vom Ende der Treppe her und dann zu dem Eichhörnchen: „Tut mir leid, keine Angst, alles in Ordnung, sie ist eine Freundin.“

Das Eichhörnchen betrachtete Zelina misstrauisch, dann Patch noch misstrauischer und fragte, „Wer bist du?“

„Ich bin Patch, Sohn von Silver, aus der Suchersippe, vom Baumkronenstamm, aus dem Mittleren Königreich,“ sagte Patch. „Wer bist du, der das wissen will?“

„Ich bin Wriggler, Sohn von Downclimber, aus der Suchersippe, aus dem Verborgenen Königreich.“

Patch schaute ihn komisch an. „Von welchem Stamm?“

„Wir haben keine Stämme im Verborgenen Königreich. Nur Sippen.“

„Du sagst, du bist aus der Suchersippe?“

„Du sagst, du bist aus der Suchersippe?“

Die beiden Eichhörnchen betrachteten sich erstaunt gegenseitig. Eichhörnchen erben ihre Stammeszugehörigkeit von ihren Vätern und ihre Sippenzugehörigkeit von ihren Müttern, es gab also Mitglieder der Suchersippe unter allen vier Stämmen des Mittleren Königreichs. Aber Patch hätte nie geglaubt, dass er Sippenbrüder und Sippenschwestern außerhalb des Mittleren Königreichs haben könnte.

„Warum habt ihr keine Stämme?“ fragte Patch.

„Das Verborgene Königreich ist nicht so wie das Mittlere Königreich oder das Hügelkönigreich. Wir haben keinen großen Wald. Wir sind zu verstreut, um Stämme zu haben.“

„Wenn ihr keinen Wald habt, wo lebt ihr dann?“

„Wir leben hier,“ sagte Wriggler. „Wir leben in dem, was du siehst.“

„Aber da sind keine Bäume! Wo schlaft ihr? Was esst ihr?“

„Komm mit, ich werde es dir zeigen.“

Wriggler sprang hinauf auf das Dach des Gebäudes und an der Mauer entlang, welche seinen Rand bildete. Patch folgte interessiert und Zelina folgte ihm.

„Muss die Katze mit uns kommen?“ fragte Wriggler.

Empört antwortete Zelina: „Ich werde dich wissen lassen, dass ich die Königin Aller Katzen bin!“

Wriggler seufzte aber protestierte nicht weiter. Er führte sie auf einer Ranke der Luftstraße entlang zu einer Reihe miteinander verbundener Gebäude mit geneigten Dächern. Es gab einige Kirschbäume, die aus der Schnellstraße vor diesen Gebäuden wuchsen, aber sie waren wie die Bäume in den Bergen, dürr und nicht miteinander verbunden und sie besaßen nur ein klein wenig Erde um ihre Stämme.

Aber sie begannen dennoch zu blühen und Patch lief das Wasser im Mund zusammen; Kirschblüten waren zwar nicht sättigend, aber sie waren lecker.

„Können wir anhalten und essen?“ fragte er.

„Ich bringe dich zu richtiger Nahrung,“ versicherte ihm Wriggler. „Siehst du da oben, am oberen Ende des Gebäudes? Mein Kobel liegt da.“

„Dein Kobel ist in einem Menschengebäude?“ fragte Patch erstaunt.

„Komm und schau ihn dir an.“

Das Dach des Gebäudes bestand aus menschengemachten Dachziegeln, und an seinem allerhöchsten Punkt waren ein paar Dachziegel abgefallen und offenbarten einen holzwändigen Hohlraum im Inneren. Wrigglers Kobel war mit Blättern und Papier ausgekleidet und sah sehr warm und komfortabel aus.

„Ich habe noch zwei Sippenbrüder in dieser Straße,“ sagte Wriggler, „wir sind hier in der Gegend alle aus der Suchersippe. Ich stell dich ihnen vor, falls ich sie sehe. Willst du etwas essen?“

„Oh ja, bitte,“ sagte Patch.

„Folge mir.“

Sie nahmen die Luftstraße über die Schnellstraße hinweg und hin zu einem großen Gebäude mit flachem Dach. Hier war die Luft warm und roch wunderbar nach Nahrung. Wriggler und Patch kletterten einen Pfahl der Luftstraße zu einem schmalen Betonstreifen zwischen zwei Gebäuden hinab. Wie üblich musste Zelina ihren eigenen, langsamen Weg hinunter auf die Erde mit vielen staksigen Hopsern vom Gebäude zur Luftstraße zum Drahtzaun, auf eine große, faulig riechende, rostige Metallkiste hinunter auf den Boden zwischen den Gebäuden finden. Sie war immer noch unbeholfen, aber Patch dachte, dass sie durch die Übung jetzt tatsächlich besser im Hinabsteigen wurde.

„Normalerweise gibt es hier gute Essen,“ sagte Wriggler. Er führte sie zu einem Haufen zerknitterter, glänzender, schwarzer Schoten, schnüffelte herum, suchte sich eine aus, riss mit seinen scharfen Zähnen ein eichhörnchengroßes Loch hinein
und verschwand darin. Die Schote krümmte sich und wackelte, während Wriggler sich hinein wand und schließlich wieder auftauchte.

„Schimmeliger Vollkornbagel!“ sagte er erfreut. „Köstlich!“

Patch folgte Wriggler in die Schote hinein und während etwas anderes in ihr drin fürchterlich stank, waren die Essensbrocken, welche er fand in der Tat köstlich. Als sie herauskamen, betrachtete Wriggler Zelina und den toten Spatz, den sie gerade fraß sehr argwöhnisch.

„Sie isst nur kleine Vögel und Mäuse,“ versicherte ihm Patch.

„Meine Mutter hat immer gesagt, trau niemals einem Raubtier,“ sagte Wriggler finster.

„Wie hast du deinen Schwanz verloren?“

Wriggler seufzte. „Ein Hund im Park. Ich vergrub eine Nuss, es war dumm von mir, wir haben genug Nahrung hier auch ohne Nüsse, sogar im Winter, aber ich konnte mir einfach nicht helfen. Er war hinter dem Wind und es gab so viele menschliche Geräusche um mich herum…“

Patch zuckte mitfühlend zusammen.

„Manchen der Weibchen macht es nichts aus,“ sagte Wriggler, während er traurig seinen stark gekürzten Schwanz betrachtete. „Das ist zumindest das, was sie sagen. Aber wenn ich sie jage, lassen sie sich nicht fangen. Ich nehme an, du hast keine Probleme beim Jagen.“

Patch wollte nicht über Frauen reden. „Ich muss nach Hause ins Mittlere Königreich kommen. Weißt du, wo wir den Fluss zu den Bergen hin überqueren können?“
Wriggler überlegte. „Es gibt Brücken. Aber die sind für Menschen. Und Falken leben auf den Brückentürmen. Ich habe noch nie von einem Eichhörnchen gehört, welches sie überquert hat.“

Von diesen Neuigkeiten ließ sich Patch nicht abbringen. Seit er das Mittlere Königreich verlassen hatte, hatte er viele Sachen getan, von denen noch nie jemand gehört hatte, dass sie jemals zuvor von einem Eichhörnchen getan wurden. Die Aussicht auf eine weitere beunruhigte ihn nicht weiter.

0 Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Abonnieren Kommentare zum Post [Atom]


Switch to

Go to the home page.

Jon Evans is the award-winning author of the thrillers Invisible Armies, Dark Places (aka Trail of the Dead), and The Blood Price. See his web site rezendi.com.

Sign up for Jon's low-frequency mailing list:

Powered by Blogger.