28. Unterschlupf vor dem Sturm
Die Luftstraße führte nach Norden in Richtung der am Horizont sichtbaren Berge weiter an einer breiten und stark befahrenen Schnellstraße entlang und vorbei an Häusern und Menschen unter ihnen. Der Wind wurde so stark, dass Patch und Zelina aufpassen mussten, nicht fortgeweht zu werden. Der Himmel im Nordosten war voll von menschlichen Flugmaschinen von der Sorte mit Flügeln, welche nicht schlugen. Sie stiegen auf und sanken zu Boden. Das Gebrüll in der Ferne, welches ihnen folgte, war beunruhigend und gab Patch das Gefühl, als ob eine Eule oder ein Falke über ihnen kreisten, bereit, herabzustoßen.
Der Himmel verdunkelte sich. Der Tag war jedoch noch nicht zu Ende – die Dunkelheit kam von Gewitterwolken, nicht vom Sonnenuntergang. Patch und Zelina hatten gerade ein Gebiet mit Menschengebäuden hinter sich gelassen und eine große Wildnis, die durch die Schnellstraße, welcher die Luftstraße folgte, geteilt wurde erreicht, als die ersten dicken Regentropfen zu fallen begannen. Schnell wurde klar, dass sie einen Unterschlupf finden mussten. Falls sie blieben, würde dieser Wind und Regen sie geradewegs von der Luftstraße fegen.
Patch war noch nie zuvor an einem Ort wie der Wildnis unter ihnen gewesen. Ihr Untergrund war feucht und schlammig und mit Tümpeln, Bächen und kleinen Flüsschen durchzogen. Der Boden war dicht mit kleinen, von Schlingpflanzen überwucherten Bäumen und Büschen bewachsen und über diesem dicht bewachsenen Untergrund gab es Bäume, welche Patch nicht kannte; sie besaßen eine sich abschälende weiße Rinde, schlanke senkrechte Stämme und kurze, dünne horizontale Äste im Überfluss. Diese Äste machten es Zelina relativ leicht, herunterzuklettern, aber sie stiegen weder so auf, noch breiteten sie sich so weit aus oder überlappten sich gegenseitig wie die Äste von Ulmen, Ahornbäumen und Eichen. Es gab ein paar andere Bäume unterhalb den weißen; komisch aussehende Bäume, deren Rinde größtenteils abgeschält war und das darunter liegende, helle Holz freilegte wie Knochen unter einer Haut. Aber diese Bäume waren zu wenige und selbst wenn sie eine Luftstraße gebildet hätten, hätte sie das Wetter unpassierbar werden lassen. Sie mussten einen Unterschlupf am Boden finden.
Es gab noch kein Laub an den Büschen, welches den Regen abhalten konnte. Während Patch und Zelina durch die Sträucher und Büsche stöberten, strömte der Regen die Äste entlang und fiel auf sie herab, und der Untergrund wurde mit jedem neuen Herzschlag nasser und matschiger. Der Regen ließ Tiergerüche wie Geister vom Boden aufsteigen und während sie nach einem Unterschlupf suchend rannten, konnte Patch Mäuse, Backenhörnchen, Ratten, Eichhörnchen, Waschbären, Frösche, Schildkröten, unzählige Vögel…und etwas, dass ihn unbehaglich an die flinken, scharfzahnigen Kreaturen, welche er zweimal von oben im Königreich des Wahnsinns gesehen hatte, riechen. Etwas, das zweifellos ein Raubtier und möglicherweise ein Fuchs war.
Der Himmel blitzte auf und es gab ein Geräusch, als würde ein Baumstamm entzweibrechen, und die Erde erzitterte.
„Oh, das ist schrecklich, schrecklich!“ jammerte Zelina.
„Hier gibt es nichts!“ brüllte Patch. Er musste brüllen, um das Dreschgeräusch der Äste im Wind zu übertönen. Zu diesem Zeitpunkt fühlte sich Patch durch und durch elend. „Wir müssen einfach unter diesen Büschen bleiben!“
„Nein! Schau! Da drüben!“
Patch schaute und sah nichts.
„Folge mir!“ schrie Zelina und setzte zu einem Todesmarsch an. Alles, was Patch tun konnte, war ihr zu folgen; zuerst durch weitere Büsche hindurch, dann durch einen Block aus riesigen Weiden. Er war überzeugt davon, dass sie sich vollkommen verirrt hatten und halbwegs überzeugt davon, dass der Regen Zelina verrückt werden lassen hat, als sie plötzlich aus den Weiden heraustraten und sich am Ufer eines Süßwasserteichs befanden, welcher so groß war, dass Patch das andere Ufer nicht sehen konnte. Ein riesiger umgefallener Baum erstreckte sich in den Teich hinein. Und der Boden unterhalb des umgestürzten Stammes dieses Baumes war warm und trocken.
Drei Eichhörnchen hatten schon zusammen mit zwei großen, hässlichen, übel riechenden Vögeln, welche Patch unbekannt waren, unter dem Stamm Unterschlupf gefunden. Patch folgte Zelina hin zu dem wonnigen, trockenen Untergrund. Die anderen Eichhörnchen wichen vor Zelina zurück. Sie rochen nach Angst.
„Ich bin Patch, Sohn von Silver, aus der Suchersippe, vom Baumkronenstamm, aus dem Mittleren Königreich,“ sagte Patch. Einen Augenblick später fügte er widerstrebend hinzu: „Das ist meine Freundin Zelina, die Königin Aller Katzen.“
Er erwartete ein vollständiges Sich-gegenseitig-vorstellen, aber die Eichhörnchen sagten nichts und starrten nur. Patch seufzte und betrachtete Zelina, die sich putzte. Er nahm an, dass sie das Problem war. Aber er hätte ohne ihre Hilfe nie diesen Unterschlupf gefunden oder die Brücke überquert.
„Von woher kommst ihr?“ flüsterte eines der Eichhörnchen. Ihre Stimme war voller Furcht.
„Aus dem Mittleren Königreich.“
Sie wich noch etwas weiter zurück, fast bis zu dem Vorhang aus Regen hin. „Aber wie seid ihr hierher gekommen?“
„Über das Königreich des Ozeans.“
„Dies hier ist das Königreich des Ozeans,“ sagte ein anderes Eichhörnchen.
„Dann von seinen südlichen Ländereien her, übers Wasser.“
„Was wisst ihr über die Monster?“ verlangte das dritte Eichhörnchen zornig zu wissen.
Patch blinzelte. „Monster? Was für Monster?“
„Die Monster, die in der Nähe unserer Heimat jagen,“ sagte das erste. „Sie haben meinen Partner getötet. Sie haben ihn in den Himmel hinaufgetragen und getötet.“
Patch verstand nicht. „Du meinst Falken? Eulen?“
„Wir meinen Monster,“ sagte das dritte Eichhörnchen. „Sie leben unter den Bäumen und schnappen uns vom Boden weg mit langen Metallklauen wie Schlingpflanzen. Sie haben uns aus unseren Kobeln hinaus in diesen Sumpf vertrieben, wo wir wie Ratten leben müssen.“
„Ich weiß nichts über Monster. Ich versuche nur, zurück ins Mittlere Königreich zu gelangen. Wer seid ihr?“
Mit jetzt etwas weniger Misstrauen stellten sich die Eichhörnchen als Hindlegs, Brokenclaw und Mudwalker vor.
„Haltet euch vom Ödland fern,“ sagte Mudwalker. „In der Nähe des Ödlandes, dort ist es, wo sie jagen. Ihr müsst hier im Sumpf bleiben.“
„Wir kommen gerade vom Ödland,“ sagte Patch, „Na ja, von der Luftstraße überhalb des Ödlandes. Und wir haben keine Monster gesehen.“
„Ihr hattet großes Glück,“ sagte Hindlegs, das Eichhörnchen, das seinen Partner an die Monster verloren hatte.
„Entschuldigung,“ sagte Patch in Vogelsprache zu den großen, hässlichen, stinkenden Vögeln. „Wisst ihr irgendetwas über Monster hier in der Gegend? Mit langen Metallklauen?“
„Es tut mir leid,“ krächzte einer von ihnen. „Wir sind neu hier in der Gegend.“
„Sag mal, du sprichst die Vogelsprache gut,“ fauchte der andere. „Hast du irgendetwas Totes gesehen?“
„Bitte?“
„Tote Körper. Leichen. Frisch wäre am Besten. Aber wir nehmen auch Maden und Verwesung in Kauf, wenn wir müssen. Wir haben Tage dafür gebraucht, hierher zu fliegen.“
„Nein, tut mir leid,“ sagte Patch.
Der erste Vogel schielte Patch komisch an. „Wie steht’s mit dir? Wie fühlst du dich? Krank? Schwach? Fiebrig? Sterbend?“
„Danke, mir geht es gut.“
„Bedauerlich. Was ist mit deinen Freunden?“
„Ich bin sicher, denen geht es auch gut.“
Die Vögel seufzten und drehten sich dem Wasser zu.
Dann erhob sich ein Reptilienkopf aus den Untiefen am Ufer des Teichs. Er sah wie ein Auswuchs am Ende eines Stängels aus, welcher aus einem zum Großteil mit Wasser bedeckten Panzer herausragte.
„Entschuldige mich, junges Eichhörnchen,“ sagte die Schildkröte in einwandfreier Vogelsprache, „mögest du bitte einen Moment Nachsicht mit mir zeigen?“
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