26. Gefährten
Sie reisten durch Menschengefilde, welche denen im Königreich des Wahnsinns stark ähnelten; Anhäufungen von relativ kleinen Gebäuden, welche in regelmäßigen Abständen mit Ödlandstreifen durchzogen waren, und hier und da gab es größere Gebäude. Die Luftstraße besaß drei Ebenen, zwei Stränge aus dünnen Drahtseilen oben und darunter dicke Drahtseile, welche zu einem Kabel verflochten waren, das so breit und stark wie ein mittelgroßer Ast war. Zelina war klein genug, um mit Leichtigkeit die Luftstraße zu erklimmen und Patch sogar über ihre dünnsten Drahtseile zu folgen.
„Ich erhebe keinen Einspruch gegen die ganze Kletterei auf Masten und Drahtseile,“ sagte sie, „sie besitzt einen gewissen akrobatischen Reiz und die Aussicht herunter ist unbestreitbar bemerkenswert, aber ich frage mich, wie lautet dein Einwand dagegen, einfach neben den Schnellstraßen herzugehen?“
„Den was?“
Sie zeigte auf den Ödlandstreifen unter ihnen. „Den Schnellstraßen.“
„Wir können auf ihnen nicht langgehen! Das sind keine Straßen. Nicht für uns. Nicht einmal die Menschen gehen auf ihnen. Da sind Todesmaschinen.“
„Automobile,“ sagte Zelina.
„Entschuldigung?“
„Das sind keine Todesmaschinen. Es ist nichts tödlich an einem Automobil. Tatsächlich sind sie überaus angenehm. Mein Gefolge machte mit mir zu unzähligen Anlässen Schnellstraßen-Automobilreisen.“
„Gefolge?“ fragte Patch, nun immer verwirrter.
„Die Menschen, die für mich sorgen.“
„Die wer die was tun?“
„Bitte vergiss nicht, ich bin die Königin Aller Katzen,“ sagte Zelina. „Ich habe eine menschliche Dienerin, die in meinem Zuhause wohnt um mich zu füttern und zu unterhalten; und bei bestimmten Anlässen, wie beispielsweise Automobilreisen, wird sie durch Gruppen anderer Menschen unterstützt.“
„Du meinst, dass Katzen mit Menschen zusammenleben? Wie Hunde?“
„Beim Licht des Mondes Patch, nicht wie Hunde,“ sagte Zelina mit vernichtender Stimme. „Menschen dienen Katzen so, wie Hunde den Menschen dienen. Und manchmal, so fürchte ich, genauso unzulänglich.“
Ihre Beschwörung des Mondes lies Patch unruhig werden. Aber er war immer noch neugierig. „Du hast mit Menschen gelebt? In einem Menschengebäude?“
„Ich habe so hoch oben über der Großen Prachtstraße gelebt, dass wenn das Fenster geöffnet war und ich hinaus auf die Metalltreppe gegangen und hinuntergeschaut habe, die Autos unter mir nicht größer als Ameisen aussahen.“
„Wo ist die Große Prachtstraße?“
„Ziemlich nahe bei deinem Mittleren Königreich, glaube ich,“ sagte Zelina. „Ich habe deinem König nie selbst einen Königlichen Besuch abgestattet, da ich andauernd mit Staatsangelegenheiten überhäuft war, aber das war der Eindruck, den ich von den anderen Katzen, welche mich manchmal auf der Treppe besuchten, erhielt.“
„Hast du dort jemals Eichhörnchen getroffen?“
„Nein. Die einzigen vorherigen Begegnungen mit Eichhörnchen waren während Automobilreisen. Aber unsere Worte entfernen sich von dem, worauf dich hinzuweisen ich strebe, Patch, Sohn von Silver, welches ist, dass ich denke, es wäre schneller, einfach die Schnellstraße entlang zu gehen.“
„Ich bleibe auf der Luftstraße. Du kannst machen, was du willst.“
Er ging weiter. Zelina verlangsamte eine Zeitlang ihren Schritt, aber sie folgte ihm immer noch nach.
„Wo gedenkst du zu schlafen?“ fragte sie.
„Ich werde einen Baum finden.“
„Ich kann nicht auf einem Baum schlafen.“
„Du kannst schlafen, wo immer du möchtest,“ sagte Patch ungeduldig.
„Warum suchen wir uns nicht einen Weg hinein in ein Haus?“
Patch wünschte sich, sie würde aufhören, komische Worte zu benutzen. „Ein was?“
„Eins der kleinen Gebäude. Ein Menschenheim.“
„Ich gehe in kein Menschengebäude hinein.“
„Warum nicht?“ fragte sie verärgert.
„Tu ich einfach nicht,“ sagte Patch. „Menschen sind gefährlich.“
Er erwartete, dass sie darüber lachte und ihm erneut erklärte, wie Menschen ihr dienten, aber sie seufzte nur und sagte nach einigen Augenblicken: „Du weißt ja gar nicht, wie recht du hast.“
Patch begriff nicht, aber wenigstens lies sie ihn danach für einige Zeit in Ruhe. Sie kamen den restlichen Tag gut voran, und am Nachmittag führte die Luftstraße zufällig genau an einem Ahornbaum vorbei. Er fraß sich mit so vielen seiner süßen Knospen voll, dass sein Bauch ein wenig aus dem Gleichgewicht gekommen zu sein schien und er aufpassen musste, nicht von der Luftstraße zu fallen.
Als schließlich die Sonne so niedrig stand, dass lange Schatten über die Landschaft unter ihnen zogen, beschloss Patch, dass es nun an der Zeit war, sich einen Kobel für die Nacht zu suchen. Er kletterte die Luftstraße zu einem Fleckchen Grün hinab, welches von mehreren der Gebäude umgeben war, die Zelina „Häuser“ nannte. Dieses Grün wurde durch hohe Zäune in ein Dutzend kleiner Parzellen aufgeteilt, für die Patch sehr dankbar war, denn einige dieser kleinen Parzellen beherbergten Hunde. Die Hunde bemerkten das Eichhörnchen und die Katze nicht, da sie sich windwärts befanden und durch etwas abgelenkt waren, was als Konversation unter Hunden durchging.
„Ich bin hier! Ich bin hier!“
„Ich bin auch hier! Ich bin auch hier!“
„Dies ist mein Territorium! Meins und das meines Herren!“
„Mein Territorium ist dies! Ich bewache es für meinen Herren!“
„Du darfst hier nicht reinkommen!“
„Du darfst hier auch nicht reinkommen!“
Patch kletterte auf einen Holzzaun und von da aus sprang er auf einen Baum, wo er eine schüsselförmige Aushöhlung am oberen Ende seines Stammes fand. Er war voll von frischen Eichhörnchengerüchen. Patch überlegte einen Moment, dann folgte er den frischesten Gerüchen höher den Baum hinauf, bis er zu einem von einem Specht ausgehöhlten Kobel gelangte. In seinem Inneren befand sich ein Eichhörnchen. Patch dachte nervös an die Eichhörnchen des Königreichs des Wahnsinns.
„Wer ist da?“ fragte das Eichhörnchen drinnen.
„Ich bin Patch, Sohn von Silver, aus der Suchersippe, vom Baumkronenstamm, aus dem Mittleren Königreich,“ sagte Patch. „Wer bist du, der das wissen will?“
„Ich bin Waterwatcher, Tochter von Shine, aus der Rennersippe, vom Stadtstamm, aus dem Königreich des Ozeans.“
„Wäre es in Ordnung, wenn ich heute Nacht in deinem Baum schlafe?“
„Natürlich. Meine Güte, bist du wirklich aus dem Mittleren Königreich?“
Waterwatcher kam aus ihrem Kobel und betrachtete Patch. Sie war wunderschön. Ihr Fell glänzte und ihre Augen waren leuchtend und wissbegierig. Patch war sich augenblicklich seines eigenen vernarbten, salzbefleckten, vom Reisen abgenutzten, fellklumpigen Erscheinungsbildes überaus gewahr.
„Ja,“ sagte er. „Es war eine anstrengende Reise.“
Dann schrie Zelina von unten aufgeschreckt: „Patch! Hilfe!“
Ihr Schrei wurde gefolgt von zweimaligem Einatmen scharfen Hundeatems. Dann fingen die Hunde an zu jammern:
„Katze! Katze! Katze! Katze!“
„Töten sie! Töten sie! Töten sie!“
„Hat die Katze deinen Namen gerufen?“ fragte Waterwatcher.
„Ja,“ gab Patch verlegen zu. Er überlegte, Zelina ihrem Schicksal zu überlassen. Dann seufzte er und sagte: „Dauert nur einen Moment.“
Das schwächer werdende, rote Licht machte es schwierig, zu erkennen, was vor sich ging und so rannte Patch erneut hinunter, um einen bessere Sicht zu haben. Er sah Zelina auf dem Holzzaun stehen, welcher genau unter der Luftstraße entlanglief und der die Parzelle, auf der Waterwatchers Baum stand, von der mit einem der bellenden Hunde trennte.
„Was ist los?“ fragte Patch über das Krakeelen der Hunde hinweg. “Klettere einfach runter.“
„Ich kann keine Wände hinabklettern!“ Zelina stank nach Schrecken.
Patch erinnerte sich, dass Katzen nicht hinabsteigen konnten. „Dann spring auf den Baum.“
„Ich kann nicht!“
Einen Augenblick später begriff Patch. Zelina konnte den Holzzaun entlang gehen, auf die gleiche Weise, wie sie den ganzen Tag über auf der Luftstraße langgegangen war; aber anders als ein Eichhörnchen war sie nicht geschickt genug, sich umzudrehen, zu balancieren und von ihm weg zu springen. Sie konnte die Holzwand bis zu ihrem Ende entlanggehen – aber da war nichts an ihrem Ende, sie war der höchste Zaun, den es hier gab.
„Es tut mir leid,“ sagte Patch. „Es gibt nichts, was ich tun kann.“
„Töten sie! Töten sie! Töten sie!“ schrie der Hund auf der anderen Seite des Zauns und Patch bemerkte, dass er, während er heulte, zum Angriff überging. Er warf seinen massiven Körper gegen den Holzzaun und Zelina fing an, wie ein Ast im Wind vor- und zurückzuschaukeln. Dann verloren ihre Krallen den Halt auf dem Zaun und sie fiel.
Glücklicherweise fiel sie anstatt auf die Seite des Hundes auf Patchs Seite des Zauns. Ihr Sturz war unbeholfen, aber sie landete elegant auf allen vier Pfoten. Bevor Patch irgendetwas sagen konnte, um sie davon abzubringen, kletterte sie auf den Eichenbaum und stand neben ihm.
„Ich bin fast gestorben,“ sagte sie wütend. „Ich hätte sterben können. Ich hätte getötet und gefressen werden können. Von einem Hund.“
„So ist das Leben,“ sagte Patch.
Sie schaute sich auf dem Eichenbaum um. „Ist dies, wo du uns zugedacht hast zu nächtigen?“
„Ich wollte hier schlafen. Aber tu dir keinen Zwang an, …“
„Zu denken, ich würde mich so herablassen. Die Königin Aller Katzen sich dazu herablassen, in einem Baum zu schlafen wie ein wildes Tier, wie ein einfaches Biest!“
Von hoch oben sagte Waterwatcher mit einer Stimme voll verblüffter Feindseligkeit: „Patch, ist diese Katze deine Begleitung?“
Patch schaute nach oben zu dem wunderschönen Eichhörnchen und versuchte, eine Ausrede zu finden.
„Dieses Eichhörnchen führt mich zurück zu meinem Zuhause,“ sagte Zelina, „und wenn es mir gut und getreu dient, soll es angemessen belohnt werden.“
Ein paar Augenblicke, in denen Stille bis auf das Kläffen der Hunde herrschte, vergingen.
Dann sagte Waterwatcher unterkühlt: „Im Königreich des Ozeans, Fremder, verkehren wir nicht mit Katzen. Du kannst heute Nacht hier bleiben. Aber nur heute Nacht. Und iss nichts.“
Sie verschwand in ihren Kobel. Patch drehte sich um und betrachtete Zelina wütend.
„Ich bin sehr müde,“ sagte sie. „Ich sehe dich dann morgen.“
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