A children's book for adults by Jon Evans
Aus dem amerikanischen Englisch von Sven Räbiger

9. August 2007

25. Die Königin Aller Katzen

„Schenke meiner bedauernswerten Umgebung keine Beachtung,“ sagte Zelina. „Ich wurde betrogen, missbraucht, verraten und verbannt. Mein Thron wurde mir gestohlen. Aber ein Thron macht keine Königin aus. Ich werde hier in dieser zerbrochenen Hülle einer Ruine sterben. Aber ich werde als Königin sterben.“

Nach einer Weile sagte Patch, „Gibt es irgendwelche Nahrung in der Nähe?“

„Nein. Drei Tage habe ich ohne Nahrung verbracht, Patch, Sohn von Silver; seitdem ich verraten wurde. Ich werde hier verhungern und ich werde sterben.“

„Aber du kannst hier Nahrung bekommen,“ entgegnete Patch. „Du bist eine Katze. Du kannst Vögel fangen. Ich habe Spatzen und Stare in den Büschen gesehen.“

„Einen Vogel fangen?“ fragte Zelina beleidigt. „Und ihn essen mit…mit Federn und Knochen und Blut? Ich, die Königin Aller Katzen? Mach dich nicht lächerlich.“

„Du würdest lieber verhungern?“

„Ich habe als Königin gelebt und ich werde als Königin sterben.“

„Ich verstehe,“ sagte Patch, obwohl er das nicht wirklich tat. „Gibt es Menschen in der Nähe?“

„Nein.“

„Gibt es irgendetwas in der Nähe?“

„Nein.“

Patch betrachtete sie misstrauisch. „Bist du sicher? Ich bin über einen Zaun geklettert. Wie viel hast du ausgekundschaftet?“

„Eine Königin kundschaftet nicht aus.“

„Weißt du wenigstens, wo wir uns befinden?“ fragte Patch entnervt.

Zelina betrachtete ihn einen Moment lang. Dann sagte sie: „Folge mir.“

Patch folgte ihr auf die Anhöhe und dann einen dichten Busch hinauf, der oben auf der Anhöhe stand. Sie kletterte beinahe so gut wie er selbst. Als sie auf dem Wipfel des Busches standen, drehte sich Zelina nach Nordwesten und sagte; „Siehe, da drüben.“

Patch kniff die Augen zusammen. Sein Sehvermögen war nicht annähernd so gut wie das einer Katze, aber in sehr weiter Entfernung konnte er…etwas…vom Horizont aufragen sehen. Etwas graues und silbernes und glitzerndes und sehr weit entfernt. Einen Moment später schnappte er vor lauter Erkenntnis nach Luft. Was er sah, war die Bergkette, welche das Mittlere Königreich umgab.

„Da ist das Herz der Stadt,“ sagte Zelina mit einer vor Sehnsucht weichen Stimme. „Da ist die Große Prachtstraße. Sie haben mich nahe genug zurückgelassen, um sie zu sehen, aber so weit entfernt, dass ich niemals zurückkehren kann. Oh, aber ihre Grausamkeit kennt keine Grenzen.“

Sie stiegen von dem Busch herunter. Zelina musste ihren Weg behutsam wählen und einmal wäre sie beinahe abgestürzt. Katzen waren lange nicht so gut im Herabklettern wie Eichhörnchen. Patch bewegte sich ohne nachzudenken, da seine Gedanken bei seinem Erinnerungsbuch waren und er versuchte, das, was er gerade gesehen hatte, mit dem Bild der Sicht auf die Welt von damals, als er in Karmerruks Krallen hing, zu vergleichen, so als wäre das Mittlere Königreich selbst eine Eichel, die er vergraben hatte und nun finden musste. Durch den Blickwinkel und die Entfernung der Berge und durch die Lage des Großen Wassers war er sich fast sicher, dass das Boot ihn weit hinter das andere Ende der Großen Brücke und hin zu einem weit entfernten, schwanzförmigen Fetzen Land am äußersten Rand der Welt getragen hatte. Er war dem Mittleren Königreich nicht näher gekommen. Aber zumindest hatte er das Große Wasser überquert und war am Leben.

„Danke, dass du es mir gezeigt hast, Zelina, Königin Aller Katzen,“ sagte Patch höflich, als sie beide wieder unten auf dem sandigen Boden waren. Er drehte sich um, um zu gehen.

„Warte,“ sagte sie. „Wo wirst du hingehen?“

„Zum Mittleren Königreich. In meine Heimat.“

Zelina sah ihn einen langen, gedankenvollen Augenblick lang an.

Dann sagte sie, „Natürlich kann ich dich nicht begleiten. Ich bin eine Königin. Ich kann mich noch nicht einmal erniedrigen, um zu überleben. Obgleich mich meine Untertanen brauchen, wäre es nicht richtig, mich selbst zu einem herumirrenden Aasfresser zu degradieren, welcher von Abfall lebt und mit einem zerlumpten, dreckigen Eichhörnchen reist.“

„Ich bin nicht dreckig!“

Sie warf ihm einen Blick zu. „Dein Fell ist ganz klumpig und du bist mit Sand und getrocknetem Salz übersäht.“

„Oh,“ sagte Patch sich zügelnd. „Nun, ich wäre gestern beinahe mehrmals gestorben–“

„Das ist keine Entschuldigung dafür, nicht die Form zu wahren. Schau mich an. Ich erwarte, sehr bald zu verhungern, aber schau, wie ordentlich mein Fell gepflegt ist.“ Und in der Tat war Zelinas Fell sauber, gepflegt und glänzend.

„Ich denke, ich sollte jetzt gehen.“

„Meine Untertanen können nicht von mir erwarten, ein Vagabund zu werden, ein Landstreicher, eine Bettlerkönigin. Sie können mich nicht ersuchen, meine Würde und meinen Stolz aufzugeben, ganz gleich wie sehr sie leiden.“

„Ich verstehe. Nun ist es Zeit –“

„Aber ihre Bedürfnisse sind so groß. Ein verräterischer Heuchler sitzt auf meinem Thron. Wenn ich mich erniedrigen muss, so soll es sein. Denn eine wahre Königin liebt ihr Volk so, wie es sie liebt und ich werde jedes Opfer erbringen, dessen sie bedürfen, ich werde mich sogar soweit herablassen, das beschämende Hilfsmittel, mit einem Eichhörnchen zu reisen, in Anspruch zu nehmen.“

„Aber –“

„Geh voran, Patch, Sohn von Silver,“ befahl Zelina. „Bring mich zurück zur Großen Prachtstraße. Falls du mir gute Dienste leistest, mögest du belohnt werden, wenn ich wieder auf dem Thron sitze.“

Patch wollte nicht mit Zelina reisen, sogar wenn sie die Königin Aller Katzen war. Aber er beschloss, nicht dagegen zu protestieren, dass sie ihm folgte. Er war sich sicher, dass sie das Interesse früh genug verlieren oder dass irgendein Ereignis oder Hindernis sie trennen würde. Und sie tat ihm leid. Trotz ihrer arroganten Sprache wusste Patch von ihrem Duft her, dass sie fürchterlich verängstigt war.

Zelina folgte ihm nach Norden durch die grasige Wildnis. Patch nahm die Witterung von Todesmaschinen auf. Er fand ein schmales, mit Kieselsteinen bedecktes Flüsschen und aß Käfer, welche er unter seinen feuchten Steinen fand und violette Blumen, welche an seinen Ufern wuchsen, während Zelina ihm mit fasziniertem Grausen zusah. Patch war froh, dass sie nichts von seinem Essen haben wollte, es gab kaum genug davon, um seinen Hunger etwas zu lindern.

Während er Käfer von den Steinen klaubte, trug eine Böe einen neuen Geruch zu ihnen, den Geruch von Mäusen. Zelina sprang auf ihre Füße.

„Was ist das?“ flüsterte sie erstaunt.

Patch schaute sie komisch an. „Mäuse.“

„Oh, ja. Ich habe von Mäusen gehört. Sie duften köstlich.“

„Du hast noch nie Mäuse gerochen?“ fragte Patch erstaunt.

„Nein.“

„Was hast du gegessen, bevor du hier raus gekommen bist?“

„Kaviar. Sahne. Sushi.“

Für Patch waren diese Worte Kauderwelsch.

„Warte einen Moment,“ sagte Zelina. Sie pirschte dem Mäusegeruch folgend ins Gras vor und kurz darauf war sie verschwunden.

Als Patch mit dem Essen fertig war, ging er weiter in Richtung des Geruchs und jetzt auch des Geräuschs von Todesmaschinen. Er dachte, er hätte Zelina zum letzten Mal gesehen. Aber als er an einen hohen, rostigen Drahtzaum kam, erschien sie wieder aus dem dichten Gras. Sie hatte Blut am Maul und ihren Schnurrhaaren und sie roch nach Adrenalin und Entzückung.

„Das ist eine sehr primitive Art zu speisen,“ sagte Zelina. „Das ganze Verprügeln und Schreien und Blut. Natürlich war es widerlich. Es war vollkommen widerlich. Aber manchmal haben Königinnen schreckliche Pflichten. Und ich muss sagen, man muss zugeben, es liegt ein gewisser unzivilisierter Nervenkitzel in der Jagd. Und in dem Töten. Besonders in dem Töten. Ich habe noch niemals zuvor etwas getötet, Patch, Sohn von Silver. Es ist in der Tat recht aufregend. Ich habe zuvor nicht begriffen, dass Königinnen wissen müssen, wie man tötet. Wir müssen in gleichem Maße aus Angst wie aus Liebe verehrt werden. Das war mein Untergang. Ich war vielgeliebt, aber ich war nicht grausam. Aber das wird sich ändern. Oh ja, das wird mir jetzt klar! Wenn ich zur Großen Prachtstraße zurückkehre, wird meine Rückkehr der Beginn eines Tages voll Blut und Terror und Rache sein!“

Ihr Jubel über das Töten machte Patch unruhig und er sagte nichts. Sie folgte ihm durch ein großes Loch unten im Drahtzaun auf ein grasbewachsenes Gelände, welches viel mehr nach Patchs Geschmack war, als die verworrene Wildnis hinter ihnen. Am Ende des Geländes gab es Menschengebäude, die gefällten Baumstämme und die Drahtseile einer Luftstraße.

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Jon Evans is the award-winning author of the thrillers Invisible Armies, Dark Places (aka Trail of the Dead), and The Blood Price. See his web site rezendi.com.

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