23. Das Große Wasser
Nach einer gewissen Zeit, welche so alptraumhaft gewesen war, dass Patch nicht sagen konnte, wie lange sie gedauert hatte, wurden die Bewegungen und die Vibrationen langsamer und hörten schließlich auf. Patch fühlte sich, als wäre sein Gehirn durchgerührt und seine Muskeln zu Brei geworden, und sein Kopf schmerzte von den öligen Todesmaschinengerüchen, die ihn umgaben. Er wusste, dass sie sich immer noch auf dem Wasser befanden daher, dass sich das Boot immer noch hob und senkte. Es bewegte sich jetzt sanfter, wofür er dankbar war.
Er hörte von sehr weit entfernt eine Hundestimme: „Was ist das? Was ist das? Was ist das?“
Einen Moment später begriff Patch, dass das kein Hund in weiter Ferne war. Es war der Hund, welcher sehr nahe bei ihm war, der Hund auf dem Boot. Er hörte sich weit entfernt an, da der entsetzliche, rasselnde Lärm Patch beinahe taub hatte werden lassen.
„Herr, da ist etwas!“ schrie der Hund. „Herr, da ist etwas! Etwas hier, etwas hier…“
Patch erstarrte.
„Eichhörnchen!“ heulte der Hund. „Eichhörnchen! Eichhörnchen! Eichhörnchen! Eichhörnchen! Töten es und fressen es! Töten es und fressen es! Töten es und fressen es!“
Die Hundeschnauze stieß in die Öffnung des Hohlraums, in dem Patch sich versteckte. Die Reißzähne des Hundes schimmerten im schwachen Licht, weniger als eine Eichhörnchenlänge von Patch entfernt und sie sabberte vor mörderischer Begierde.
„Töten dich und fressen dich! Töten dich und fressen dich!“ schrie er Patch mit einer etwas gedämpften Stimme an, da die engen Wände des Hohlraums halbwegs einen Maulkorb bildeten. Der Hund versuchte, seinen ganzen Kopf in den Hohlraum zu stecken, seine Reißzähne prallten aufeinander, als er versuchte, Patch mit ihnen zu schnappen, aber er war ein größerer Hund und sein Kopf war zu groß dafür.
Der Kopf des Hundes wurde plötzlich weggezogen. Patch hörte die komplizierten, pulsierenden Geräusche einer Menschenstimme. Dann war da ein Menschenkopf am Ende des Hohlraums und ein Menschenauge starrte ihn an. Patch versuchte, sich noch tiefer in den Hohlraum zurückzuziehen, aber er befand sich schon an seinem Ende.
Der Menschenkopf wich zurück. Er wurde sofort wieder durch den des heulenden, blutrünstigen Hundes ersetzt. Dann wurde der Hund erneut weggezogen – und ein langer metallener Ast wurde in den Hohlraum gestoßen. Der Ast stach und schlug nach Patch. Sein Ende war stumpf, aber er wurde mit solcher Kraft benutzt, dass Patch nur zwei Möglichkeiten hatte: Am Ast entlang und vorbei aus dem Hohlraum ins offene Boot zu rennen, wo der Hund und der Mensch auf ihn warteten, oder zu bleiben und zu Tode geprügelt zu werden.
Er wollt nichtsdestotrotz bleiben – aber der Ast gelangte hinter ihn und zog ihn zum Ende des Hohlraums heraus. Und plötzlich war da Sonnenlicht in Patchs Gesicht; und ein Mensch stand über ihm mit dem metallenen Ast in der Hand; und ein Hund sprang ihn mit blutrünstigem Knurren an, seinen mit Reißzähnen gespickten Schlund so weit geöffnet, als wolle er Patch in einem Stück verschlingen.
Patch sprang. Es lag keine Überlegung in diesem Sprung, nur Instinkt. Der Sprung trug ihn über den Hundekopf hinweg, so knapp, dass seine Pfoten sein Ohr streiften, hin auf eine kleine Plattform, welche etwa auf derselben Höhe wie die des Hundes lag und aus einem seltsamen, glitschigen Material bestand. Sie war ein wenig wie die Bänke im Mittleren Königreich geformt, auf die sich oft die Menschen setzten. Patchs zweiter Sprung beförderte ihn, während der Hund seinen Kopf drehte, um nach ihm zu schnappen, über den Rest des Hundekörpers hinweg und auf den Boden des Bootes. Der Fuß des Menschen trat aus und Patch konnte gerade noch einen Schritt zur Seite machen. Sein dritter Sprung brachte ihn zu einer weiteren Plattform am Heck des Bootes und sein vierter trug ihn zum äußersten Rand des Bootes, der dünnen Wand der Halbschale, auf der er mit unsicheren Beinen für einen langen, Schwindel erregenden Moment sitzen blieb.
Das Boot befand sich tief draußen, inmitten des Großen Wassers. Die Berge des Mittleren Königreichs waren nirgends zu sehen. Genauso wenig wie die Türme der großen Brücke. In der Ferne sah Patch einen einzelnen Streifen Land, sonst gab es nur Wasser, das sich endlos in alle anderen Richtungen erstreckte.
„Töten dich und fressen dich!“ grölte der Hund, während er über das Boot sprintete. Der Mensch kam ihm nach und schwang seinen metallenen Ast mit tödlicher Stärke hin und her. Der Hund kauerte sich zu einem Sprung aus dem Sprint heraus zusammen und sein Mund öffnete sich zu einem Todesbiss.
Patch hatte keine Wahl. Er hüpfte ins Wasser. Es war furchtbar kalt.
„Töten dich und fressen dich!“ schrie der Hund vom Boot aus, während Patch verzweifelt davonpaddelte. „Töten dich und fressen dich!“
Patch schwamm. Zu Anfang war sein einziger Gedanke, sich so schnell wie möglich vom Boot zu entfernen. Aber als die wahnsinnig machenden Schreie des Hundes abebbten, wurden der Schrecken, der in seinem Verstand hauste, langsam wieder durch Denken abgelöst und Patch erkannte, dass er an Land schwimmen musste. Er konnte kein Land sehen. Er konnte gar nichts außer den gewaltigen Wellen, welche zehnmal so hoch wie er selbst waren, und den wolkendurchzogenen Himmel über ihm sehen. Manchmal jedoch hörte er, während stiller Momente inmitten des ständigen Aufruhrs der Wellen, die Geräusche von Möwen und er schwamm in Richtung dieser Geräusche.
Er schwamm eine sehr lange Zeit. Er trieb von selbst auf dem Wasser, sein Schwanz funktionierte ausgezeichnet als Ruder und mit allen Vieren paddelnd kam er für seine Größe zügig voran, aber er hatte einen so großen weiten Weg vor sich. Ihm wurde kühl, dann fror er. Er wurde durstig, dann furchtbar durstig, aber er wusste, dass er das Salzwasser, welches seine Lippen verschrumpeln und seine Zunge verwelken lies, nicht trinken konnte. Er wurde müde, dann fürchterlich erschöpft, aber er wusste, dass er sich keine Pause trotz der stechenden Schmerzen in jedem seiner paddelnden Beine erlauben konnte. Die Sonne begann, unterzugehen. Dies half ihm, sich zu orientieren, aber verängstigte ihn sehr. Patch wusste, dass er keine Nacht im Wasser überleben würde.
Die Möwengeräusche wurden lauter. Während der seltenen Gelegenheiten, in denen er seinen Kopf aus dem Schleier der Erschöpfung heben konnte, begann er, Möwen ihre Bögen im Himmel über ihm ziehen zu sehen. Dann fing sein rechtes Vorderbein an, sich so stark zu verkrampfen, dass er es schlichtweg nicht mehr bewegen konnte und er musste seinen Schwanz so ausrichten, dass er nicht im Kreis schwamm. Die Beschaffenheit der Wellen, die ihn trugen, änderte sich; sie wurden abgehackter und schaumbedeckt, ihre Bewegungen wurden eindringlicher und unberechenbarer; und während das bedeutete, dass er näher an Land kam, machte es dies auch schwieriger für ihn, sich durch das Ebben und Reißen ihrer Strömungen zu kämpfen.
Die Wolken waren rot von der ausklingenden Sonne, als Patch, während er auf dem Kamm einer ungewöhnlich hohen Welle ritt, Land vor sich sah. Als er schlussendlich auf Beinen, die dem totalen Zusammenbruch nahe waren, aus dem Wasser auf den Sandstrand taumelte, war die Sonne beinahe erloschen gewesen. Er schaffte kaum noch den kurzen Gang durch den Sand und hinein in das Dickicht aus robustem Gras, welches auf den Dünen oberhalb des Strandes wuchs; und dort brach er dann zusammen, zu müde, um dankbar für sein Leben zu sein.
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