7. Jumper
Die Öffnung im Drahtzaun, durch die Snout sich gequetscht hatte, war zu klein für Patch, um es ihm gleichzutun. Aber es war ziemlich einfach, zum oberen Zaunende hinauf zu klettern. Von hier aus konnte Patch das ganze Loch in der Bergseite sehen. Es war, als hätte sich eine gewaltige Kreatur einen großen Bissen aus dem Berghang genommen. Unterhalb des Drahtzaunes fiel eine dünnwandige Grube tief in die Dunkelheit hinab. Die Grube war voll von menschlichen Dingen; Metall und Beton war in den seltsamen Rundungen und geraden Linien geformt, die die Menschen zwar bevorzugten, den Tieren aber ein flaues Gefühl gaben. Die Luft war staubig und stank fürchterlich. Patch schirmte seine Augen mit seinem Schwanz ab und kniff seine Augen zusammen; aber von oben auf dem Zaun, wo die Sonne hell schien, konnte er noch immer nicht in die Dunkelheit am Grund der Grube schauen.
„Ich denke, wir sollten gehen,“ sagte Toro.
„Noch nicht,“ wiederholte Patch. Er beobachtete die Staubwolken in der Grube und wie sie sich bewegten. Er wollte sich nicht windwärts der Ratten befinden. Auch sie hatten feine Nasen. Er rannte oben auf dem Zaun entlang, so weit vor den Wind, wie er konnte, dann atmete er tief ein und rannte geradewegs den Zaun hinunter.
Der Rand der Grube war aus hartem Beton, nicht geeignet, um daran herabzuklettern, aber ein hölzernes Brett führte hinab in die Schatten. Patch bewegte sich auf diesem Brett so leise er konnte hinab; Ratten hatten auch scharfsinnige Ohren. Es war seltsam, auf Holz mit einer so vollkommen geraden Oberfläche zu gehen. Die Grube war so tief wie ein mittelgroßer Baum. Etwa auf der Hälfte des Brettes bewegte er sich aus dem Sonnenlicht heraus hinein in den Schatten und seine Augen begannen, sich der neuen Umgebung anzupassen.
Die Mitte der Grube war ein Durcheinander aus menschengemachten geometrischen Dingen. Ihr Grund war von Rohren, Brettern und Trägern durchkreuzt. Der Boden und eine Wand bestanden eher aus felsiger Erde als aus Beton. In einer Ecke jedoch, zwischen zwei Betonwänden, in Richtung des Berginneren, sah er die unverwechselbaren, wuselnden Bewegungen einer Ratte.
Patch schlich sich näher heran, während er sich dabei, so sehr es möglich war, hinter menschlichen Dingen versteckte. Er erreichte eine Metallröhre, die nahe an der Ecke entlanglief, und folgte ihr der Länge nach, bis sie in der Wand verschwand, nur etwa ein halbes Dutzend Eichhörnchenlängen von der Ecke entfernt. Er war immer noch vor dem Wind, dachte er jedenfalls, obwohl es hier unten schwierig war, den Wind zu studieren. Patch machte sich so lang er konnte, somit konnte er mit Mühe und Not über die Röhre hinweg und zur Ecke der Grube hin schauen.
In dieser Ecke sah Patch etwas sehr seltsames. Er sah ein Dutzend großer Ratten im Kreis stehen, alle hatten ihr Gesicht nach außen gewendet und ihre Schwänze waren in der Mitte ihres Kreises zu einem großen, verworrenen Klumpen verknotet. Auf diesem klumpigen Knoten aus Schwänzen stand Snout, die größte Ratte von allen. Und neben diesem grotesken Rattenklumpen sah Patch zu seiner großen Überraschung ein anderes Eichhörnchen, das klein war und ein rötliches Fell hatte.
„Patch, Sohn von Silver,“ sagte das seltsame Eichhörnchen, und Patch erstarrte. „Ich habe von ihm gehört. Er gehört zu den Baumkronen. Er spricht mit Vögeln und geht tagelang für sich alleine los. Ich bin sicher, er weiß überhaupt nichts. Er kam nur wegen der Nahrung in die Berge.“
„Das reicht nicht,“ sagte Snout. „Wir werden ihn Karmerruk geben.“
„Aber –“ begann das Eichhörnchen.
„Wir werden ihn Karmerruk geben.“
Der Name sagte Patch nichts, aber er schien das Eichhörnchen zu verängstigen.
„Du sagtest, du würdest mir Jumper zeigen,“ sagte das Eichhörnchen zögernd zu Snout.
Patch erstarrte.
„Oh ja, Jumper,“ sagte Snout und lächelte, dabei entblößte er seine gezackten gelben Zähne. Dann befiehl die Ratte lauthals: „Bringt ihn her!“
In der Nähe des Ortes, an dem die Ratten und das andere Eichhörnchen standen, befand sich ein dunkles Loch in der Ecke der Grube. Patch sah, dass sich in dem Loch etwas bewegte. Er sah einen Eichhörnchenkopf aus ihm hervortreten. Er schaute schockiert zu, wie Jumper, der Lord des Baumkronenstamms, unter Schmerzen mit langsamen und spastischen Bewegungen aus dem Loch kroch und schließlich unbeholfen auf den Boden fiel. Jumper blutete an vielen Stellen und zog sich nur mit den Vorderbeinen vorwärts, beide Hinterbeine hingen bewegungslos von seinem Körper herab. Mehrere Ratten folgten Jumper aus dem Loch hinaus.
„Lord Jumper wird nicht mehr springen,“ sagte Snout und lachte.
Jumper richtete sich mit Hilfe seiner Vorderbeine auf. Patch konnte sehen, dass er große Schmerzen hatte.
„Redeye,“ sagte Jumper mit zerrissener Stimme zu dem Eichhörnchen, das inmitten der Ratten stand. „Wie konntest du das tun?“
Das andere Eichhörnchen schaute unruhig und antwortete nicht. Patch war froh, dass er jetzt seinen Namen kannte. Es war Redeye, den er in Silvers Kobel gerochen hatte.
„Er tat es für mich,“ sagte Snout. „Er hat geschworen, mir zu dienen, so wie ich geschworen habe, dem Unteren König zu dienen. Dem König, in dessen Namen du und alle deiner Art getötet und gefressen werden werdet.“
Snout stieg von dem Knoten aus Rattenschwänzen, auf dem er gestanden hatte, herab. Der Knoten begann, sich wie ein Nest aus Würmern zu winden, während die Ratten sich von einander entknoteten. Als sie sich befreit hatten, bildeten die Ratten einen engen Kreis um Jumper. Snout schloss sich dem Kreis an. Auch Redeye. Patch wusste, was als nächstes passieren würde. Er wollte nicht zusehen. Aber es war eine zu entsetzliche Sache, um sich abzuwenden.
„Nein,“ flehte Jumper sie an. „Nein, bitte. Nicht so.“
„Doch,“ fauchte Snout. „Genau so.“
Und dann fielen sie wie ein Schwarm über den Lord der Baumkronen her. Jumper schrie dreimal auf, bevor er unter der rasenden Masse aus beißenden Ratten verstummte. Redeye schien mehr Ratte als Eichhörnchen zu sein, als er mit seinen scharfen Reißzähnen an Jumpers Körper zerrte. Es dauerte kaum länger als man benötigt, um es zu erzählen, bis von Jumper nichts mehr außer Fetzen, Knochen und einer Blutlache übrig war. Selbst dann begannen die Ratten noch damit, an seinen Knochen zu nagen und sein Blut aufzulecken. Sie würden nichts von ihm übriglassen.
Patch zog sich lautlos zu dem hölzernen Brett zurück, welches hinaus aus der Grube führte. Ihm war kälter als am schlimmsten Tag des Winters. Das Eichhörnchen Redeye hatte Jumper an die Ratten verraten; er hatte geholfen, ihn zu töten; geholfen ihn zu fressen. Und Redeyes Duftmarke war in Silvers Kobel gewesen. Patch kletterte wie betäubt ins Sonnenlicht, dann über den Zaun zurück zum Beton, ohne auf die vorbeigehende Menschen und die Todesmaschinen Acht zu geben. Sie konnten ihn gerade kaum entsetzen, alles woran er denken konnte war an das, was er in der Grube gesehen hatte.
„Was hast du gesehen?“ rief Toro von einem Baum herunter. „Was war dort unten?“
Patch sagte: „Ich muss zurück zum Königreich gehen.“
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