A children's book for adults by Jon Evans
Aus dem amerikanischen Englisch von Sven Räbiger

17. Juli 2007

2. Patchs Familie

Patchs Mutter wurde Silver genannt, da die hoch stehende Sommersonne ihr Fell in dieser Farbe schimmern lies. Sie hatte einen wunderbaren Kobel hoch oben in einer Fichte, welcher lange zuvor von einem Specht gestaltet und seitdem zu einem zweizimmerigen Heim voller heller, glänzender Dinge erweitert wurde. Die Reise über die Luftstraße zu ihrem Kobel dauerte nicht lange. Als Patch hineinschaute, sah er hunderte Farben im Sonnenlicht glitzern, sie leuchteten von den Glas- und Metallstückchen, die in Silvers Wände und Boden eingelassen waren. Aber seine Mutter war nicht da.

Er konnte anhand der Schwäche ihres Geruchs erkennen, dass seit einiger Zeit kein Eichhörnchen hier gewesen war. Es gab zwei schwache Geruchsspuren, welche einige Tage alt waren; die von Silver und die eines weiteren Eichhörnchens, ein nach Moschus riechender Duft, den Patch nicht kannte. Ein Duft, der seinen Schwanz aufstellen ließ, als wenn Gefahr im Verzug wäre.

Patch starrte für einen Moment den leeren Kobel seiner Mutter an. Es war nicht normal für Eichhörnchen, ihren Kobel für mehrere Tage zu verlassen, nicht mitten im Winter. Und er hatte Silver seit drei Tagen schon nicht mehr gesehen. Nichtmehr, seit alle Eicheln vom Antlitz der Erde verschwunden waren.

Patch rannte zurück zu seinem eigenen Baum, dann zum angrenzenden Ahornbaum, zum Kobel seines Bruders Tuft. Er rannte sehr schnell. Er war hungriger als jemals zuvor und er begann, sich große Sorgen zu machen. Er war erleichtert, als er in Tufts Kobel hineinschaute und ihn bewohnt vorfand. Tuft selbst war zwar nicht da, aber Brighteyes und ihre Babys waren es und durch den Geruch wurde klar, dass Tuft eben gerade erst weggegangen war.

„Hallo Patch,“ sagte Brighteyes kraftlos. „Willst du reinkommen?“

Patch trat ein. Brighteyes lag eingerollt mit den Babys in der tiefsten, wärmsten Ecke des Kobels. Als Patch das letzte Mal vor einer Woche auf Besuch war, war dies ein Bau voller Lärm und Chaos gewesen, alle vier Babys rannten und sprangen und kämpften zum Spaß. Heute lagen sie schwach und kränklich neben ihrer Mutter, und deren ehemals leuchtenden Augen, von denen sie ihren Namen hatte, waren dämmerig und trübe.

„Onkel Patch,“ sagte das kleinste Baby mit einer kläglichen, quäkenden Stimme. „Bitte Onkel Patch, hast du etwas zu essen?“

Die anderen Babys schauten Patch mit leuchtenden, hoffnungsvollen Augen an. Trotz des Hungers, den er im Moment hatte, wenn er eine Eichel gehabt hätte, hätte er sie seinen Nichten und Neffen gegeben. Aber er hatte gar nichts.

„Es tut mir leid,“ sagte Patch beschämt. „Ich habe seit Tagen kein Essen mehr gefunden.“

„Auch niemand anderes,“ sagte Brighteyes.

„Hast du Silver gesehen?“

„Nein. Sie hat uns nicht besucht, seit das Essen ausgegangen ist.“

Patch überlegte. „Sucht Tuft nach etwas zu essen?“

Nach einem langen Moment sagte Brighteyes ganz leise, so als müsste sie etwas furchtbar beschämendes zugeben: „Tuft ist zum Wiesenstamm gegangen.“

„Zum Wiesenstamm?“ fragte Patch verwirrt. „Wozu?“

„Um ihr Angebot anzunehmen,“ sagte Brighteyes mit einer Stimme, die kaum lauter als ein Flüstern war.

„Welches Angebot?“

Brighteyes erstarrte vor Überraschung. „Hast du noch nicht gehört?“

„Was gehört?“

„Du verbringst zu viel Zeit alleine, Patch. Wenn du öfters mit anderen reden würdest, wärst du nicht immer der letzte, der alles erfährt.“

„Der letzte, der was erfährt?“

„Der Wiesenstamm hat den Baumkroneneichhörnchen Nahrung angeboten. Aber nur, falls wir uns ihrem Stamm anschließen.“

„Ihrem Stamm anschließen?“ Patch schaute sie verdutzt an. „Sich den Wiesen anschließen? Das ist nicht möglich. Wir sind von den Baumkronen. Wir können keine Wiesen werden.“

„Sie sagen, wenn wir einen Treueid auf den Wiesenstamm schwören, wenn wir beim Mond schwören, dann werden wir auch Wiesen und dann werden sie uns Nahrung geben.“

Nach einer langen Weile fragte Patch, seine Stimme war jetzt so gedämpft wie die von Brighteyes, „Beim Mond schwören?“

Dies ist hier nicht der richtige Platz, um zu erklären, was der Mond für die Tiere bedeutet. Es genügt zu sagen, dass ein Eid auf den Mond geschworen stärker ist, als ein mit Blut besiegelter Eid. Ein solcher Eid kann niemals wieder gebrochen oder abgeschworen werden.

„Ja,“ sagte Brighteyes, von Patch abgewandt.

„Tuft ist weggegangen, um beim Mond auf den Wiesenstamm zu schwören?“

„Ja. Wir werden alle gehen. Wir werden alle schwören. Tuft wird etwas Nahrung für die Kinder mitbringen, und wenn sie stark genug sind, werden sie selbst gehen, um zu schwören.“

„Das könnt ihr nicht tun,“ sagte Patch schockiert. „Ihr könnt die Baumkronen nicht verlassen. Ihr könnt eure Kinder nicht einem anderen Stamm überlassen.“

„Wir müssen. Wir haben überhaupt kein Essen mehr Patch. Du siehst doch, wie schwach meine Babys sind. Niemand anderes kann uns helfen. Silver ist fort. Jumper ist fort.“

„Jumper ist fort? Wohin?“

„Das weiß niemand. Seit Tagen hat ihn niemand gesehen. So wie niemand Silver gesehen hat. Oder irgendeinen anderen Anführer der Sippe.“

„Der König,“ sagte Patch. „Wir werden zu König Thorn gehen.“

„Der Ramble1 ist zu weit entfernt. Sogar wenn der König Hilfe schicken würde, würde sie nie rechtzeitig eintreffen. Meine Babys verhungern, Patch. Meine Babys sterben. Die Wiesen sind unsere einzige Hoffnung.“

Nach einer Weile drehte Patch sich um, nicht fähig, Brighteyes anzuschauen und sagte: „Ich hätte nicht zugelassen, dass euch das passiert.“

„Sag so etwas nicht. Es gibt nichts, was Tuft hätte tun können. Es gibt nichts, was du hättest tun können, wenn ich mich für dich entschieden hätte.“

„Doch gibt es. Wenn ich es gewusst hätte. Es gibt noch einen andern Platz, um Nahrung zu bekommen.“

„Warum bist du dann hungrig?“ fragte Brighteyes.

Patch zögerte. „Es ist gefährlich. Er liegt in den Bergen.“

„In den Bergen? Bist du verrückt?“

Patch kam um diese Antwort durch das Erscheinen seines Bruders Tuft am Eingang des Kobels herum. Tuft drückte zwei Eicheln an seine Brust, aber er sah gefährlich abgemagert und schwach und müde aus.

„Es ist vollbracht,“ sagte Tuft. Seine Stimme klang düster. „Ich habe mich den Wiesen angeschlossen.“

Tuft trug die Nahrung zu seiner Familie hinein. Während die Kinder eine Eichel verschlangen, standen Brighteyes und Tuft und Patch um die andere herum, als ob sie glühen würde.

„Diese hier ist für dich,“ sagte Tuft zu Brighteyes. „Die Wiesen gaben mir eine für mich selbst, als ich da war.“

Patch wusste, dass Tuft log.

Brighteyes sagte: „Wir werden sie teilen. Alle drei von uns.“

Patch wollte so gerne einen Bissen von der Eichel, dass sein ganzer Körper vor Verlangen zitterte.

„Nein,“ sagte er schwach.

Tuft und Brighteyes drehten sich erstaunt zu ihm um.

„Ich werde in die Berge gehen,“ sagte Patch.

Auf der Stelle, bevor die Versuchung der Eichel zu stark wurde, um abzulehnen, drehte er sich um und floh aus dem Kobel seines Bruders. Er rannte geradewegs den Ahornstamm hinunter bis auf den Boden. Von dort aus rannte Patch nach Norden und nach Westen. Sein Hunger war eine versengende Flamme in seinem Inneren.

1Ramble: Eigenname; besonders wilder Teil des Central Parks in New York

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Jon Evans is the award-winning author of the thrillers Invisible Armies, Dark Places (aka Trail of the Dead), and The Blood Price. See his web site rezendi.com.

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